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OPEN SPACE: RAUM GEBEN FÜR UNERWARTETE DURCHBRÜCHE

 

Matthias zur Bonsen

Dieser Artikel entspricht nicht exakt dem, der im März 1998 im Harvard Business manager veröffentlicht wurde (denn der ist per copyright geschützt), kommt ihm aber nahe.

Es klingt wie ein Rezept für sinnloses Chaos: 50 oder 300 Mitarbeiter für zweieinhalb Tage in einen Raum bringen und keine detailliert festgelegte Tagesordnung zu haben. Doch aus dem Chaos entsteht eine enorm produktive Konferenz, in der innovative Durchbrüche mehr die Regel als die Ausnahme sind. Open Space Technology ist eine Konferenzmethode und mehr noch eine Methode zur Veränderung und Mobilisierung ganzer Unternehmen, die zur Zeit ihren Siegeszug rund um die Welt antritt. Ihr Erfinder, Harrison Owen, wünscht sich, daß ihre Anwendung einmal so normal und allgegenwärtig sein wird wie doppelte Buchführung. Sie hat das Potential dazu. Denn an Einfachheit und Eleganz ist sie nicht zu überbieten.

Von zwei Seiten fällt Tageslicht in den 400 qm großen, hohen Saal eines Hotels. Zu sehen sind darin nur 110 Stühle - in einem einzigen großen Kreis. Sonst nichts. Etwas befremdend zunächst für die Mitarbeiter des Chemie-Unternehmens, die an diesem frühen Morgen nach und nach eintreffen. Sie sind freiwillig zu einer zweieinhalbtägigen Konferenz gekommen, für die es keine Tagesordnung gibt, keine Redner, keine Tische, keine schriftlichen Aufgaben - nichts als open space.

Der Leiter des Unternehmens begrüßt und erläutert die Dramatik der Lage. Der Hauptkunde, der 40 % der produzierten Menge abnimmt, sei kürzlich von einem der schärfsten Wettbewerber, einem koreanischen Unternehmen gekauft worden. Nicht genug, eben dieser Hauptkunde hätte Anlaß gehabt, die Qualität zu beanstanden. Das Preisniveau im Markt sei um durchschnittlich 20% gefallen.
Ein paar andere schlechte Nachrichten rundeten das Szenario ab, und damit war klar: Ausruhen gibt es nicht, wir müssen uns von neuem anstrengen. Produktivität, Qualität und Kundenservice seien zu verbessern - und zwar schnell. Um das zu befördern sei man zusammengekommen.

Der Moderator (in diesem Fall der Autor) tritt in die Mitte des Kreises und erläutert, wie es weitergeht. Es gibt keine Agenda - noch nicht. Die Tagesordnung soll auf einer etwa 15 Meter langen Wand entstehen, und die ist noch völlig leer. Sie ist nur in sieben Abschnitte eingeteilt. Der ganz links heißt Montag 10.00 - 12.00 h und der ganz rechts Dienstag 16.00 - 18.00 h. Dazwischen befinden sich andere zweistündige Zeitabschnitte.

Auf sein Zeichen hin solle gleich jeder, der ein Thema hat, das zum Generalthema der Konferenz paßt, in die Mitte des Kreises kommen, das Mikrophon in die Hand nehmen, sagen wie er heißt, dann sein Thema nennen, es auf ein großes Blatt Papier schreiben und danach an die große Wand hängen. Niemand solle mit einem Thema kommen, bei dem er meint, daß irgendjemand anders irgendetwas tun solle. Voraussetzung sei, daß einem das Thema so wichtig sei, daß man unbedingt etwas in Bewegung bringen und dafür selbst Verantwortung übernehmen wolle. Wer ein Thema nenne, hätte später die Gelegenheit, mit einer Freiwilligengruppe etwa zwei Stunden daran zu arbeiten.

Der Moderator spricht etwa eine viertel Stunde. Ein nicht geringer Teil der Zuhörer meint, an seiner Beerdigung "live" teilzunehmen. Denn das kann ja gar nicht klappen. Es haben bestimmt nicht genug Kollegen den Mut, vor allen 110 aufzustehen und ihr Thema durchs Mikrophon zu verkünden. Doch als das Zeichen gegeben wird und der Moment der Spannung am höchsten ist, setzten sich nach und nach alle in Bewegung: Knapp 40 Teilnehmer der Konferenz stehen auf und nennen 48 Themen. Eine Stunde nach Konferenzbeginn ist die 15 Meter lange Wand - das sogenannte Anschlagbrett - voll. Es ist etwas gelungen, woran vorher keiner geglaubt hätte.

Als nächstes wird der Marktplatz eröffnet: Alle gehen zum Anschlagbrett und tragen sich dort ein, wo sie mitarbeiten wollen. In jedem der vorgesehenen zweistündigen Zeitabschnitte stehen 6 bis 8 Themen zur Verfügung. Jeder schreibt seinen Namen auf die Themen-Blätter, wo er mitmachen will. Das eine oder andere Thema wird auf eine andere Zeit verlegt, damit auch jeder, der will, mitmachen kann. Jetzt steht die Agenda und die Arbeit geht los. In den folgenden zwei Tagen werden knapp 50 Mini-Workshops stattfinden.

Ein revolutionäres Konferenzmodell

Die Methode, deren Anfang hier beschrieben wurde, heißt Open Space Technology. Sie wurde von Harrison Owen vor etwa 12 Jahren entwickelt und im Laufe der folgenden Jahre erprobt. Momentan verbreitet sie sich in rasantem Tempo über den ganzen Erdball. Denn sie ermöglicht es, komplexe Themen mit vielen Menschen zu bearbeiten, viele Menschen rasch zu aktivieren und die Intelligenz und das Wissen vieler zu nutzen. Anwendbar ist sie mit 10 bis 750 Personen. Immer sitzen am Anfang alle in einem großen runden Kreis, bei hohen Teilnehmerzahlen in mehreren konzentrischen Kreisen.

Open Space-Konferenzen haben ein Generalthema - mehr nicht. Die Führungsspitze gibt eine Richtung vor, setzt einen Rahmen und erzeugt einen Sog. Ausgefüllt wird dieser von den Teilnehmern. Das Generalthema muß eines sein, das den Beteiligten wichtig ist, wie z.B. die Zukunft der eigenen Firma. Es muß breit genug sein, damit es Spielraum für Ideen und Kreativität läßt. Die Zukunft des eigenen Unternehmens ist sicher das breitest-mögliche Thema, doch auch engere Themen passen zu Open Space, solange sie Spielraum lassen. Unsere Service-Qualität steigern kann ebenso ein Thema für Open Space sein wie Synergien zwischen Geschäftsbereich A und Geschäftsbereich B realisieren. Wenn das Thema wichtig ist, möglichst noch dringend, breit genug, komplex, von keinem einzelnen lösbar und wenn viele dafür in Bewegung gesetzt werden müssen, dann ist es geeignet für Open Space.

Fragt sich noch, ob die Führungsspitze als Veranstalter selbst dafür geeignet ist. Kann sie Spielraum lassen? Kann sie ihren Mitarbeitern vertrauen? Kann sie offen sein für die vielen Ideen und die Energie, die eine Open Space-Konferenz erzeugt? Kann sie hinterher die Mitarbeiter machen und umsetzen lassen? Oder will sie dann doch wieder micro-management betreiben und sich in alles einmischen? Im letzten Fall wäre sie für Open Space nicht geeignet.

Doch warum sollte sie den Mitarbeitern eigentlich vertrauen? Warum kann sie sicher sein, daß der open space mit sinnvollen Themen gefüllt wird? Die Antwort liegt in der immensen Hürde, die die Konferenzteilnehmer nehmen müssen, wenn sie ein Thema auf die Tagesordnung bringen wollen. Sich vor 50 oder 300 Kollegen am Mikrophon zu exponieren, dazu findet nicht jeder den Mut. Und das ist gut so. Es sollen nämlich nur die kommen, die für ihr Thema Leidenschaft empfinden, die wirklich etwas voranbringen wollen und denen ihre causa so wichtig ist, daß sie sich nicht abhalten lassen, in die Mitte des oft riesigen Kreises zu treten. Die Energieträger werden gesucht, die Themen-Champions, in denen ungeachtet ihrer Position und Funktion ein Feuer für eine Sache brennt.

Und genau die kommen und sie kommen mit guten Themen. Abteilungsleiter kommen, Meister, Schichtleiter, Werker, Sekretärinnen, Geschäftsführer, Sachbearbeiter....Viele sind selbst erstaunt über ihren Mut und wachsen über sich hinaus. Das Ergebnis ist eine Tagesordnung, die reflektiert, was den Energieträgern des Unternehmens im Rahmen des Generalthemas der Konferenz besonders wichtig ist.

Die Konferenz lebt

Nachdem die Tagesordnung etabliert ist, finden Dutzende, manchmal weit mehr als hundert kleine Workshops statt. Mal sitzen 7 Teilnehmer zusammen, mal 12, mal 20. Manche sitzen in Gruppen-räumen, andere im Plenumssaal, die dritten in der Lobby und die vierten im Garten. Manche Workshops sind nach einer Stunde zu Ende, manche brauchen die vollen zwei Stunden, manche verlängern sogar darüber hinaus. Manche erweitern oder verändern ihr Thema, starten eine neue Runde am zweiten Tag und werben dafür neue Teilnehmer. In den meisten Gruppen moderiert derjenige, der das Thema initiiert hat, manchmal überläßt er die Moderation jemand anderem, gelegentlich taucht aus der Gruppe eine zweite Führungspersönlichkeit auf, die das Thema begeistert und die die Stafette vom ursprünglichen Initiator übernimmt. Alles ist freiwillig und alles ist möglich. Jeder arbeitet genau dort mit, wo er will. Wenn jemand feststellt, daß er in der von ihm gewählten Gruppe keinen Beitrag leisten kann oder nichts lernt, darf er in eine andere gehen. Das Gesetz der zwei Füße wird diese Regelung genannt. Jeder arbeitet im Laufe von zwei Tagen in sieben oder mehr Gruppen mit, die jedes mal anders zusammengesetzt sind. Jeder knüpft unzählige neue oder vertieft alte Beziehungen.

Lebendigkeit ist der Begriff, der dieses Stadium der Konferenz am besten beschreibt. Man spürt, daß es den Beteiligten Freude macht, an Themen zu arbeiten, die sie interessieren. Man kann beobachten, wie konzentriert sie arbeiten, sich zuhören und diskutieren. Und zugleich scheint alles mit einer spielerischen Leichtigkeit abzulaufen. Doch wie werden diese unzähligen Diskussionen wieder zusammengeführt, wie entsteht ein gemeinsames Ergebnis der gesamten Konferenz?

Was man erwarten würde, geschieht nicht: Es gibt keine Präsentationen der Gruppenergebnisse im Plenum. 50 oder gar 100 Gruppen präsentieren zu lassen, wäre nie und nimmer praktikabel. Stattdessen schreiben alle Initiatoren (meist zusammen mit ein oder zwei Kollegen) noch während der Konferenz einen schriftlichen Bericht von ein bis drei Seiten Länge über die Resultate ihres Workshops. Zu diesem Zwecke wird oft eine ganze Batterie von PCs oder Notebooks im Plenumsraum aufgestellt. Am Ende des zweiten Tages sind alle Berichte fertig. Sie werden in der Nacht für jeden Teilnehmer fotokopiert und in einer Mappe gebündelt.

Der dritte Tag

Zwei Tage lang wurde Divergenz erzeugt - viele Themen, viele Gruppen. Das war nicht unnütz, im Gegenteil. Der dritte Tag (eigentlich nur ein Vormittag) steht im Zeichen der Konvergenz. An diesem Tag (der nicht in jedem Fall stattfinden muß, siehe Kasten) werden die zentralen Themen und Ziele herausgeschält.

Wenn am dritten Tag morgens die Teilnehmer kommen, dann liegen in der Mitte des großen Stuhlkreises die Mappen mit allen Berichten. Der Moderator teilt sie nicht aus, sie liegen einfach da, bis sie von jemand entdeckt werden. Im Nu verteilen dann einige Teilnehmer ihr gemeinsames Konferenzergebnis an ihre Kollegen - die Symbolik stimmt. Was nun folgt, muß nicht angeleitet werden. Die Konferenzteilnehmer lesen, manchmal eine Stunde lang, manchmal sogar mehr. Sie werden gebeten, dabei darauf zu achten, welches die aus ihrer Sicht wichtigsten Ergebnisse sind, und sich die Nummern der entsprechenden Berichte/Workshops zu notieren.

Ist das Lesen beendet, wird gemeinsam priorisiert. Bei nicht zu hohen Teilnehmerzahlen kann man "punkten". Bei mehr als 200 bedarf es einer elektronischen Lösung. In beiden Fällen ist das Ergebnis eine Liste der Top Ten - also der zehn wichtigsten Berichte. Nicht daß alle anderen Gruppenergebnisse nicht umgesetzt werden sollen, doch in diese zehn sollten verfügbare Ressourcen vordringlich gelenkt werden.

Anschließend werden im Raum zehn Flipcharts aufgestellt. Die Top Ten-Themen stehen darauf, die jeweiligen Initiatoren daneben, und alle anderen gehen nochmals herum und bringen zusätzliche Anregungen ein. Dann treffen sich noch einmal die Freiwilligengruppen dieser Top Ten-Themen. Doch diesesmal sollen nur diejenigen in die Gruppen gehen, die definitiv gewillt sind, auch nach der Konferenz weiter mit der Gruppe für das Thema zu arbeiten. Diese zehn wichtigsten Gruppen treffen kurz Verabredungen für ihr weiteres Vorgehen, und werden - als symbolische Verstärkung - fotografiert. Danach wird die Konferenz mit einer abschließenden Reflexion unter der Beteiligung aller beendet.

Was bringt Open Space?

Auf der materiellen Ebene entstehen zahlreiche Ideen für Maßnahmen und die Motivation einer Gruppe, diese Maßnahmen tatsächlich umzusetzen:

• Bei einem LKW-Hersteller stand eine Führungskraft aus dem Einkauf auf und formulierte ihr Thema etwa folgendermaßen: "Der Vorstand hat uns vorgeschrieben, künftig 35% im Ausland einzukaufen, doch kaum einer macht sich klar, was das für die Logistik, die Qualitätssicherung und die Produktion bedeutet. Ich möchte mit einer Gruppe daran arbeiten." Die Gruppe, die sich damals bildete, traf sich auch ein Jahr später noch regelmäßig, um Global Sourcing zur Wirklichkeit zu machen.

• Eine kleine Privatbank mit etwa 300 Mitarbeitern führte eine Open Space-Konferenz durch, um alle Mitarbeiter für mehr Kundenorientierung zu aktivieren. Die Konferenz fand an einem 10. und 11. November mit 80 Mitarbeitern statt. Am 26. November, dem Freitag vor dem 1. Advent, ging durch die gesamte lokale Presse und die von mir fernab gelesene FAZ, daß diese Bank während der Adventszeit samstags öffnen würde und daß das auf einer Mitarbeiterkonferenz beschlossen worden sei. Ich rief den Personalleiter an, der mir erzählte, daß er unmittelbar nach der Konferenz in Urlaub gefahren und gerade erst zurückgekommen sei. Er sei erstaunt, wie schnell die neue Regelung ohne sein Zutun über die Bühne gegangen sei.

• In dem Chemie-Unternehmen, von dem eingangs die Rede war, diskutierte eine Gruppe, ob die Forschungs- und Entwicklungsbereiche des amerikanischen und des deutschen Werkes mit einer einzigen Versuchsanlage auskommen könnten. Die Sorge, daß eine der beiden Abteilungen dann doch nicht mehr genug Zugriff auf die eine übriggebliebene Anlage haben könne, war zu groß, als daß sich die Gruppe zu dieser Empfehlung durchringen konnte. Doch die Idee war im Raum, die Geschäftsleitung versprach jederzeitige Atlantikflüge, die deutsche Anlage wurde stillgelegt, ein Dutzend Mitarbeiter und viele Sachkosten konnten eingespart werden.

• Als die TÜVs zweier deutscher Bundesländer fusionierten, wurde 14 Tage nach der Verschmelzung ein Open Space mit 85 Führungskräften durchgeführt. Diese initiierten etwa 40 Workshops zu allen anstehenden Themen: Gemeinsame Betreuung von Schlüsselkunden, gemeinsames Vertriebsinformationssystem, Abgleich der Hard- und Software, Organisation der zentralen Stäbe, Vergütungssystem, Job Rotation und vieles andere mehr. Nach einhelliger Meinung der Teilnehmenden hätte die Fusion nicht effizienter beginnen können.

Nicht alle Maßnahmen sind so weitreichend wie die oben beschriebenen. Doch daß Open Space-Konferenzen innovative Durchbrüche erzeugen, ist mehr die Regel als die Ausnahme. Manche Ergebnisse werden kaum bemerkt: Der eine sagt in einer Gruppe "Ich habe ein Problem", der andere sagt "Ich kann es Dir lösen". Was daraus entsteht, erscheint vielleicht nie in einem schriftlichen Bericht, dennoch ist möglicherweise etwas sehr wichtiges in Gang gekommen.

Die immateriellen Ergebnisse einer Open Space-Konferenz sind von mindestens so großer Bedeutung wie die materiellen. Solche Konferenzen wirken enorm gemeinschaftsstiftend, selbst dort wo vorher Vorurteile, Animositäten und Konflikte vorherrschten. Bei einem Dieselmotorenhersteller mit Werken in mehreren europäischen Ländern, die im letzten Jahrzehnt zugekauft wurden, war dies der Fall. Die Ausländer fühlten sich als Opfer einer feindlichen Übernahme durch die Deutschen, die Deutschen empfanden ihre ausländischen Kollegen als unkooperativ. Während der Konferenz entdeckten alle erstaunt, wie ähnlich sie denken und wie ähnliche Schwerpunkte sie für die Zukunft setzen. Einige äußerten, daß sie jetzt das erste mal Hoffnung hätten, daß man doch ein Unternehmen würde und die gemeinsamen Probleme anginge.

Das neue Gefühl, eine große Gemeinschaft mit gemeinsamen Zielen zu sein, setzt Energie frei. Und Energie ist vielleicht das Schlüsselwort für Open Space überhaupt. Eine solche Konferenz revitalisiert die Energie, den spirit einer Organisation. Man sieht es an der Haltung und an den Gesichtern der Menschen. Man kann es körperlich spüren. Die Open Space-Konferenz stellt ein Gipfelerlebnis - eine Energiespitze - dar, die sicher nicht so im Alltag erhalten bleibt, aber dennoch anhaltende Nachwirkungen zeitigt.

Open Space-Konferenzen prägen die Kultur. Mit kaum einer anderen Methode läßt sich so schnell die Mentalität einer großen Zahl von Mitarbeitern beeinflussen. Open Space sendet eine starke Botschaft aus, die da heißt: Hier zählen Initiative und Mut. Hier ist es normal, in hierarchie- und funktionsübergreifenden Gruppen zusamenzuarbeiten. Hier gibt es Freiräume zum Handeln. Hier muß man aus der Deckung kommen. Hier wird Unternehmertum im Unternehmen gefragt und belohnt. Wer mehrere Open Space-Konferenzen veranstaltet, wird beobachten, wie diese Botschaften sich im Bewußtsein der Mitarbeiter einprägen. Im Grunde ist die Open Space-Konferenz nur Vorlauf und Übungsfeld für die Open Space-Organisation, eine Organisation, in der es zum Alltag gehört, daß der einzelne Initiative zeigt, eine passende Gruppe über Hierarchie- und Funktionsgrenzen hinweg zusammenholt, Pläne ausarbeitet und umsetzt - eben ein pulsierendes, lebendiges Unternehmen.

Was kommt danach?

Die Gruppen, die sich während der Konferenz gebildet haben, dürfen und sollen umsetzen. Und das tun sie auch. Sicher nicht jede in gleichem Maße, doch das Gros setzt viel in Bewegung. Manche Gruppen treffen sich noch zweimal, andere noch zwei Jahre. Das Management gibt, wo erforderlich, Unterstützung, stellt Ressourcen zur Verfügung, trifft Entscheidungen, die zur Umsetzung gebraucht werden. Doch eines tut das Management nicht: es nimmt ein Thema nicht der Gruppe weg, die es ursprünglich aufbrachte, und gibt es an den "zuständigeren" Linien- oder Projektverantwortlichen. Vielmehr wird die Initiative der Gruppe gewürdigt und ihr die Möglichkeit zur Umsetzung gegeben. Und wenn einmal aufgrund des Umfangs der Maßnahme ein formelles Projekt aufgesetzt wird, werden bei der Besetzung die Mitglieder der ursprünglichen Gruppe berücksichtigt.

Es hat sich bewährt, nach ein paar Wochen noch einmal alle Initiatoren von Gruppen und die Geschäftsleitung zusammenzuholen. Jeder präsentiert dann kurz, wie er bisher vorangekommen ist und wo es noch klemmt. Die Initiatoren lernen, was ihre Kollegen tun, die Geschäftsleitung lernt, wo es noch Unterstützung braucht. Eventuell stellt sich heraus, daß die Ergebnisse von ein oder zwei Gruppen Voraussetzung für das Weiterarbeiten der anderen sind, und man beschließt deren Arbeit durch off-site-Workshops zu beschleunigen. Vielleicht wird auch klar, daß das Thema einer anderen Gruppe so komplex war, daß sie in den zwei Stunden während der Konferenz auch nicht ansatzweise zu Ergebnissen kommen konnte und daß es dafür einen eigenen Prozeß (eventuell einen kleineren Open Space) braucht.

In Großunternehmen werden manchmal Homepages auf dem Intranet für die wichtigsten Gruppen eingerichtet. In diesen elektronischen Schaufenstern wird über den Umsetzungsfortschritt des jeweiligen Themas informiert. Oder sie enthalten ein Diskussionsforum. Dann steht es Tausenden offen, sich an einem zentralen strategischen Thema zu beteiligen. Diese Chance wird von den Interessiertesten genutzt. Das ist der Open Cyberspace.

Will man noch mehr tun, um die Umsetzung zu sichern, dann eröffnet man den Top Ten-Gruppen die Möglichkeit, bei der nächsten Open Space-Konferenz zu Beginn zu präsentieren: Was wollten wir tun und was haben wir tatsächlich getan. Dadurch wird die berühmte peer pressure erzeugt, der Druck von Gleichrangigen. Was man vor denen einmal versprochen hat, das will man auch halten und sich keine Blöße geben.

Und tatsächlich: Der beste Follow-up für eine Open Space-Konferenz ist eine zweite. Das soll nun aber nicht an all die zahllosen Programme und Kampagnen erinnern, die in den letzten Jahren Mode waren und die sich nur erhalten ließen, wenn man sie an die eiserne Lunge hing und zwangsbeatmete - also immer neue Energie und Ressourcen hineinsteckte. Der Wunsch nach einer zweiten Open Space-Konferenz kommt vielmehr von innen, von den Teilnehmern selbst. Sie wollen (fast immer) weiter mit dieser Methode arbeiten. Man muß nichts weiter tun, als den Raum dazu zu geben: to open up space.

Unbewußt spüren die Teilnehmer, daß ihr Unternehmen auch ein Ritual braucht. Eine Zusammen-kunft, die die Energie auffrischt und den Gemeinschaftsgeist erneuert. Und die zugleich das Geschäft nach vorne bringt. Open Space ist ein solches Ritual, das man wiederholen kann.

Gefahren?

Es gibt nichts, daß keinerlei Gefahr birgt. Bei Open Space besteht die größte darin, daß sich ein Auftraggeber auf dieses Vorgehen einläßt, der hinterher doch nicht den Spielraum zur Umsetzung läßt oder in venünftigem Umfang Ressourcen (sofern erforderlich) dazu bereitstellt. In solch einem Fall hat Open Space nicht nur nichts gebracht, sondern sogar etwas zerstört: das Vertrauen in die Führung.

Oft wird die Frage gestellt, ob während einer Open Space-Konferenz in den hierarchie-übergrei-fenden Gruppen denn überhaupt offen geredet würde, ob die Mitarbeiter nicht aus Angst schwierige Themen verschweigen würden oder ob nicht das Jammern über die schwierige Situation überhand nehmen würde. Sicher läuft all das nicht perfekt. Die Offenheit ist nicht grenzenlos und gejammert wird immer mal wieder. Doch die Erfahrung zeigt, daß trotzdem sehr produktive und zukunfts-gerichtete Dialoge zustande kommen. In einem Unternehmen, in dem gerade vieles schmerzt, kann es gut sein, daß der erste Tag einer Open Space-Konferenz gebraucht wird, um den den Schmerz zu spüren. Das ist legitime Trauerarbeit - eine Katharsis. Am zweiten Tag jedoch ist diese aller Erfahrung nach vorbei, und die Möglichkeiten für konstruktives Handeln rücken in den Vordergrund.

Open Space steht für ein neues Paradigma der Führung: eine Richtung vorgeben, Rahmen setzen, Raum geben, vertrauen, loslassen, auch Chaos erlauben und order out of chaos (ein Buchtitel des Nobelpreisträgers Ilya Prigogine) entstehen lassen. High learning, high play, high spirit, high results. Ein letztes Beispiel hat mit der Olympiade 1996 in Atlanta zu tun, genauer gesagt mit dem Global Village, einem Gelände, auf dem Firmen die Möglichkeit hatten, sich in eigenen Pavillons der Welt zu präsentieren. Darunter befand sich auch ATT, die zunächst einen Standort am Rande des Geländes zugewiesen bekam, für den 5000 Besucher pro Tag prognostiziert wurden. Doch das Konzept, das ATT schließlich vorlegte, gefiel dem Olympischen Komitee so sehr, daß sie ATT einen neuen Standort im Zentrum des Parks anbot - mit geschätzten 75.000 Besuchern pro Tag. Nun war das Problem da: Das alte Konzept, das in über einem Jahr erarbeitet wurde, funktionierte nicht mehr, und bis zur Olympiade blieben nur noch wenige Monate Zeit. Mit dem früheren Vorgehen würde man nie rechtzeitig fertig werden. Harrison Owen wurde gerufen und moderierte eine Open Space-Konferenz mit den 23 Planern des Pavillons. Ergebnis war, daß diese Gruppe nach zwei Tagen mit einem neuen Design weiter war, als mit dem alten nach einem Jahr.

Open Space: Raum geben für unerwartete Durchbrüche.