Marvin
R. Weisbord
Text
eines Faltblatts von Future Search Associates (ehemals SearchNet)
Übersetzt und reproduziert mit Erlaubnis von Future Search Associates
von Matthias zur Bonsen.
"Zukunftskonferenz"
ist meine Bezeichnung für eine bemerkenswerte Methode, die es Menschen
und Gruppen mit unterschiedlichen Interessen ermöglicht, gemeinsame
Ziele zu finden. Im vergangenen Jahrzehnt wurden mit ihr häufig
soziale, technische und wirtschaftliche Durchbrüche erzielt, die
in konventionellen Top-down-Konferenzen nicht hätten erreicht werden
können. Zukunftskonferenzen sind eine optimale Planungsstrategie
für unklare "Probleme ohne Grenzen" -für vertrackte
Dilemmata, die sich in den Bereichen von Wirtschaft, Umwelt, Beschäftigung,
Technologie, Bildung, Gesundheitswesen und Stadtentwicklung heute immer
häufiger ergeben.
Zukunftskonferenzen basieren auf einer Reihe von Grundprinzipien, mit
deren Hilfe die gewünschten Ergebnisse erreicht werden können.
Sie ermöglichen auf eine einmalige Art und Weise allen beteiligten
"lnteressengruppen", ihre gemeinsame Situation besser zu verstehen
und die Verantwortung dafür zu übernehmen. An einer Konferenz,
die bis zu zweieinhalb Tagen dauern kann, nehmen 30 bis 72 Personen
teil. Das Ziel ist eine gemeinsam getragene Vision sowie die Erarbeitung
von Maßnahmenplänen zu deren Umsetzung.
Grundprinzipien
der Zukunftskonferenz
o das ganze System in einen Raum holen
o global denken, lokal handeln
o Fokus auf die Zukunft statt auf Probleme
o in selbststeuernden Gruppen arbeiten
Eine
Methode, die unseren Erwartungen gerecht wird
Die Teilnehmer bearbeiten in Kleingruppen fünf Aufgaben, die ungefähr
16 Arbeitsstunden in Anspruch nehmen. Die Aufgaben erkennen das Vorhandensein
unterschiedlicher Sichtweisen und die Komplexität der Thematik
an. Sie bauen auf unserer Fähigkeit auf, aus Erfahrung zu lernen.
Die erste Aufgabe ist ein Rückblick in unsere Vergangenheit - in
unsere Unterschiede und Ähnlichkeiten und unsere gemeinsamen Werte.
In der zweiten Aufgabe sammeln wir unsere Wahrnehmungen von Trends und
zeichnen ein Bild unseres Umfelds, das vollständiger ist als das
Bild jedes einzelnen. Zusammen mit anderen "lnteressengruppen"
zeigen wir die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die gegenwart
und Zukunft auf. Niemand steht unter dem Druck, seine "Positionen"
aufzugeben. Jeder hört den Ausführungen der anderen zu. Im
Anschluß stellt jede "Interessengruppe" dar, worauf
sie stolz ist und was sie bedauert. Die Defizite werden als "gegenwärtige
Realität" betrachtet und nicht als Probleme, die gelöst
werden müssen.
Gemeinsame Maßnahmen-Planung
Als dritte Aufgabe entwerfen gemischte Gruppen Visionen einer idealen
Zukunft und inszenieren diese in phantasievoller Weise. Indem wir unsere
Träume spielen, als ob sie bereits wahr wären, motivieren
wir uns, auf das, was- wir wirklich wollen, zielstrebig hinzuarbeiten.
Als vierte Aufgabe schälen zuerst die Gruppen und dann das Plenum
die Gemeinsamkeiten aller Zukunftsentwürfe heraus. Wenn wir uns
nicht auf ein Ziel einigen können, gilt es nicht als vereinbart.
Gewöhnlich stimmt das Plenum in mehr als 80% der Ziele überein.
Diese unerwartete Kohärenz verändert unsere Maßnahmenplanung.
Wir wissen, oft zum ersten Mal, wo wir und die anderen stehen. Das ermöglicht
es uns, in der fünften und letzten Aufgabe, für eine Zukunft
zu planen, die vom gesamten Spektrum der Teilnehmer gewünscht wird.
Wir entdecken oft ungeahnte Fähigkeiten und Talente. Wir setzten
Dinge in die Tat um, die wir vorher nicht für möglich gehalten
hätten. Ich habe über 30 Jahre in Veränderungsprozessen
von drei Stunden bis zu drei Jahren Dauer gearbeitet, mit MBO, STS,
TQM und anderen "Kürzeln" mehr - und ich kenne keinen
besseren Weg, um in 18 Stunden gemeinsame Ziele zu finden und Maßnahmenpläne
zu erarbeiten.
Ablauf
der Zukunftskonferenz
Zukunft von X - in 5 bis 20 Jahren
Aufgabe 1: Vergangenheit: Welt, Selbst, X
Aufgabe 2: Gegenwart: externe Trends zu X
Aufgabe 3: Gegenwart: Stolz und Bedauern zu Wir und X
Aufgabe 4: Zukunft-. gewünschte Visionen
Aufgabe 5: Gemeinsamkeiten herausschälen
Aufgabe 6: Maßnahmen planen
Stereotypen
loslassen
Eine Zukunftskonferenz zu organisieren, das heißt auch unsere
bisherigen Annahmen über die Arbeit mit Großgruppen zu revidieren.
In Zukunftskonferenzen erfahren wir, daß die meisten von uns in
der Lage sind, Unterschiede in Herkunft, Klasse, Geschlecht, Rasse,
Macht, Status und Hierarchie zu überbrücken, wenn wir gleichberechtigt
an gemeinsamen Themen arbeiten. Wir schaffen dies trotz der Stereotypen,
Vorurteile und "Ismen", die tief in uns verwurzelt sind. Wir
schaffen es trotz der "Schatten", die unser Leben belasten.
Wir schaffen es trotz unserer Skepsis und düsteren Prognosen, was
geschehen oder nicht geschehen wird. Befreit von dem Druck, unlösbare
Probleme zu lösen, können wir Gemeinsamkeiten entdecken, von
denen keiner wußte, daß sie überhaupt existieren. Anstatt
andere Menschen zu ändern, ändern wir die Bedingungen, unter
denen wir interagieren. Das ist immerhin machbar.
Die meisten Konferenzen beinhalten Reden, Diskussionen und "top-down
roll outs" von Missionen, Visionen, Strategien, Informationen und
neuen Strukturen. Fast alle beruhen auf einer externen Diagnose und
Verschreibung: Diese Gruppe braucht Informationen. jene Gruppe braucht
Teamentwicklung. Eine andere Gruppe braucht eine motivierende Rede.
Und alte brauchen Moderatoren an jedem Tisch, besonders Leute, die sich
vorher noch nicht kennengelernt haben. Außerdem brauchen sie...
Unsere Annahmen ändern
Unsere Annahmen bleiben bestehen, weil wir nicht wagen, sie zu testen.
So werden sie zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Trotz zahlloser
Konferenzen, die auf diesen Prinzipien beruhen, geraten unsere Institutionen
ins Wanken. Unsere Methoden entsprechen nicht unseren tieferen Bedürfnissen.
Zudem fällt es uns schwer, unseren eigenen Sinnen zu vertrauen.
Wir wissen, WAS wir wollen (gegenseitigen Respekt, guten Service, Empowerment,
Qualität, Produktivität etc.). Wir wissen aber nicht, WIE
wir diese Eigenschaften in Konferenzen einbringen können, selbst
nicht in solche, die sie zum Thema haben. Kein Wunder, daß wir
zynisch geworden sind. Warum sollte eine "Zukunftskonferenz"
anders sein?
Angenommen, unsere schwierigen Planungsprobleme verlangen mehr nach
Einschätzungen als nach Expertenwissen? Angenommen, es ist wichtig,
Verantwortung zu übernehmen in einer Situation, in der es viele
"richtige" Antworten gibt? Angenommen, wir haben bereits alle
Fähigkeiten, die wir dazu brauchen? Angenommen, daß jeder
von uns nur einen kleinen Teil des Puzzles kennt? Angenommen, daß
wir Zugang zueinander brauchen, um das ganze Puzzle zu verstehen? Angenommen,
daß wir uns gemeinsam den Problemen stellen müssen - dem
Durcheinander und der Verwirrung - und etwas tun müssen? Das können
wir nur schaffen, wenn wir voneinander lernen, unsere Wahrnehmungen
auszutauschen und zusammen bereit sind, Verantwortung für unsere
Zukunft-zu übernehmen. Das ist keine besonders ausgefallene Anleitung,
jedoch eine, die denen hilft, die sie anwenden können.
Einfach, nicht leicht
Für Zukunftskonferenzen braucht man nur den gesunden Menschenverstand.
Sie bauen auf dem Wissen und den Fähigkeiten auf, die die Teilnehmer
bereits haben - ohne zusätzliches Training, Ermunterung oder Beratung.
Sie funktionieren dadurch, daß sie strukturelle Barrieren zwischen
uns entfernen, die uns davon abhalten, uns selbst und unsere Welt zu
verstehen, Verantwortung zu übernehmen und zu handeln. Sie helfen
uns, den Verstand zu benutzen, mit dem wir geboren wurden.
Bei aller Begeisterung möchte ich nicht behaupten, daß dies
eine leichte Aufgabe ist oder daß man in 18 Stunden Arbeit viele
Jahre der Untätigkeit und der Konflikte wieder aufholen kann. Zukunftskonferenzen
sind einfach, aber nicht leicht. Es ist harte Arbeit, die richtigen
Leute auszuwählen und in einen Raum zu holen. Manchmal nimmt das
mehr Zeit in Anspruch als die ganze Konferenz. Doch der Konferenzablauf
ist einfach. Und das erstaunt auch mich immer wieder, der ich doch über
30 Jahre damit verbracht habe, mit ausgeklügelten Konzepten nach
den Sternen zu greifen. Konzepte, die dann - leider - der Aufgabe doch
nicht gerecht wurden. Zukunftskonferenzen sind so unkompliziert, daß
sie schnell verworfen werden. Dennoch sind sie profund genug, um in
uns Ängste über Beherrschbarkeit, Konflikte und Mißerfolg
auszulösen.
Jeder arbeitet gleichberechtigt. Jeder muß sich unserer Vergangenheit,
unserer Gegenwart und unserer Zukunft im Dialog mit anderen stellen.
Die Ergebnisse können nicht vorhergesagt werden. Doch sie sind
mit hoher Wahrscheinlichkeit innovativ, konstruktiv, idealistisch, pragmatisch
und erstaunlich langlebig. Auf dem Weg dorthin stellen wir uns der Unsicherheit,
die uns dazu bringt, eine neue Welt zu kreieren.
Warum kurz vor dem Erfolg aufhören?
Kein Wunder, daß einige Sponsoren kalte Füße bekommen,
wenn sie sich die Voraussetzungen, die für das Gelingen einer solchen
Konferenz wesentlich sind, klar machen: zum Beispiel eine breite Basis
von Menschen, die sich normalerweise nie treffen, einladen. Oder den
globalen Kontext untersuchen - unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
- bevor wir beginnen zu planen. Oder die Arbeit in selbststeuernden
Gruppen, zusammen mit Externen oder Leuten, die eine Geschichte der
Konflikte und Mißerfolge hinter sich haben. Oder sich über
drei Tage hinweg 18 Stunden (ausgenommen Pausen und Mahlzeiten) zu treffen,
anstatt alles in einen einzigen Tag zu quetschen. Oder die konkrete
Planung solange zu verschieben, bis der Konsens über eine gemeinsame
Vision erreicht ist.
Die Sponsoren nehmen oft an, daß ihre "lnteressengruppen"
ganz anders sind. "Sie werden nicht kommen, sie werden nicht bleiben
und sie wollen keine Zeit damit verbringen, über die Vergangenheit
zu reden. Selbst wenn sie es täten, würden sie sich nie auf
eine gemeinsame Zukunft einigen können." Diese Annahmen sollten
getestet werden. Sponsoren, denen Zukunftskonferenzen neu sind, laufen
Gefahr, wesentliche Elemente zu verwässern. Damit reduzieren sie
ihre Ängste - aber auch die Chance, daß etwas wirklich Neues
geschieht. Nur wenn wir die Grundprinzipien beachten, können wir
Durchbrüche erzielen. Wenn wir das nicht tun, bedauern wir es in
aller Regel hinterher. Fragen Sie jemanden, der eine Zukunftskonferenz
veranstaltet hat.
Die Grundprinzipien des Erfolgs entstammen einer 30jährigen Erfahrung
in verschiedenen Kulturen. Viele Beispiele lassen sich in Discovering
Common Ground (Berrett-Koehler 1992) finden. Dieses Buch destilliert
aus zahlreichen Fällen die Prinzipien, die Erfolge wiederholbar
machen. Es gibt auch andere Möglichkeiten, Zukunftskonferenzen
kennenzulernen. Eine besteht darin, mit Teilnehmern zu reden. Oder an
einem SearchNet-Seminar teilzunehmen. Wenn Sie das Glück haben,
eingeladen zu werden, dann nehmen Sie an einer Zukunftskonferenz teil,
deren Thema Ihnen wichtig ist. Dann werden Sie erster Hand erleben,
wie auf der Basis einer gemeinsamen Vision Maßnahmen geplant werden
- mit Menschen, deren Zukunft sich mit der Ihren überschneidet.
Marvin
Weisbord hat von 1969 bis 1991 in Nordamerika und Skandinavien Unternehmen,
Krankenhäuser und Non-Profit-Organisationen beraten. Er ist Autor
von Productive Workplaces (Jossey-Bass 1987) und Ko-Autor von Discovering
Common Ground (Berrett-Koehler 1992) und Future Search (Berrett-Koehler
1995). siehe Literatur