Matthias 
          zur Bonsen
         
        
        Bislang 
          haben wir strategische Ziele und Zukunftsentwürfe eher mit kleinen 
          Gruppen entwickelt. Geht es auch mit großen? Die Methode Zukunftskonferenz 
          erlaubt es, bis 72 Personen in einem Raum ihre gemeinsame Zukunft planen 
          und dabei unerwartete Durchbrüche erzielen zu lassen. Die Zukunft 
          kann die einer Organisation oder die eines "Themas" sein, 
          an dem verschiedene Gruppen oder Menschen beteiligt sind. Zukunftskonferenzen 
          sind ein von Marvin Weisbord entwickeltes Dialog-, Lern-, Planungs- 
          und Mobilisierungsinstrument, das sich zur Zeit rasch über den 
          ganzen Erdball ausbreitet.
           
        
        
        Warum 
          sollten wir überhaupt mit einer großen Gruppe planen? Machen 
          wir es uns dadurch nicht unendlich schwer? Türmen wir auf die Schwierigkeit 
          des Umgangs mit einer großen Gruppe nicht auch noch die Problematik, 
          in dieser Gruppe dann Einigkeit herzustellen? Zweifel sind berechtigt. 
          Dennoch ist ein Grund triftig und schlagend: Wenn viele bei der Erarbeitung 
          von Zielen und Maßnahmen dabei waren, dann packen hinterher auch 
          viele mit an. Wenn das zudem in einer Weise geschieht, die die Beteiligten 
          tiefgreifend mobilisiert, dann entsteht ein kraftvoller Energieschub.
          
          Unternehmen und Organisationen können auf diese Weise gleich mehrere 
          Hierarchieebenen und Funktionsbereiche miteinbinden. Firmen können 
          Kunden, Händler und/oder Lieferanten an der Konferenz beteiligen 
          und auf diese Weise die Teilnehmer mit Aussagen konfrontieren, die unter 
          die Haut gehen. Und damit sind wir schon bei einem wichtigen Prinzip 
          der Zukunfts-konferenz: Das ganze, offene System in einen Raum holen.
          
          Wenn eine Stadt ihre Zukunft entwirft und viele aktivieren will, diese 
          Zukunft in die Hand zu nehmen, dann gehören zu dem offenen System 
          neben Politikern und der Verwaltung auch die verschiedenen Interessengruppen 
          vom Bildungsektor bis zum Gewerbe. Wenn es eine Schule ist, kommen Eltern, 
          Schüler, Ehemalige und Vertreter weiterführender Schulen zusammen 
          mit Lehrern in den einen Raum. Jeder kann andere, wertvolle Wahrnehmungen 
          miteinbringen, jeder kann bei der Umsetzung eine andere Türe öffnen. 
          Jeder kann Vorurteile gegenüber anderen Gruppen abbauen. So entsteht 
          nicht zuletzt in einer großen Gruppe durch die Zukunftskonferenz 
          Gemeinschaftsgeist - etwas, das in vielen unserer Firmen und Organisationen 
          fehlt.
          
          Eine Zukunftskonferenz dauert etwa 18 Stunden, die auf drei Tage verteilt 
          werden. Die Teilnehmer sitzen in Siebener- oder Achtergruppen an mal 
          gemischten und mal homogenen Tischen, sie arbeiten nacheinander an fünf 
          Aufgaben und präsentieren und diskutieren ihre Ergebnisse im Plenum. 
          Sie lernen voneinander mit dem Kopf und mit dem Herz, sie entwerfen 
          Visionen, vereinbaren Ziele, planen Maßnahmen und verabreden sich 
          zu deren Umsetzung. Der Ablauf ist so gestaltet, daß ein gutes 
          Dialogklima systematisch aufgebaut und das emotionale Zusammenwachsen 
          der Tagungsgemeinschaft gefördert wird. Es beginnt mit einem Rückblick 
          in die Vergangenheit, darauf folgt die Analyse von Umfeldentwicklungen 
          (zur Organisation oder zum Thema X), danach untersucht man die heutige 
          Realität der Organisation oder des Themas, entwirft dann Visionen, 
          kristallisiert die gemeinsamen Ziele aller Beteiligten heraus und plant 
          schließlich Maßnahmen. Die fünf Phasen (siehe Abbildung) 
          bauen schrittweise aufeinander auf und führen trichterförmig 
          vom Generellen zum Spezifischen. Jede dieser Phasen dauert etwa drei 
          Stunden, nur die letzte, wo es um die Umsetzung geht, vier bis sechs.
          
          
          Mit einem Rückblick beginnen
          
          Zu Beginn sitzen 30 bis 72 Personen in einem großen Raum - erwartungsvoll, 
          neugierig, skep-tisch, offen und zum Teil ängstlich. Die erste 
          Aufgabe besteht in einem Rückblick in die Ver-gangenheit. Dabei 
          geht es nicht nur um die Vergangenheit des Organisation oder des Konfe-renzthemas, 
          sondern auch um die persönliche Vergangenheit der Teilnehmer und 
          um die Vergangenheit der Welt, in der wir leben. Die Teilnehmer stehen 
          von ihren Plätzen auf und tragen Höhepunkte, Meilensteine 
          und wichtige Entwicklungen in an den Wänden hängende "Zeitlinien" 
          (zusammengeklebte Flipcharts) ein. Sofort sind das Interesse und die 
          Energie der Teilnehmer da. Der Start ist einfach und glückt immer 
          und hat befreiende und motivierende Wirkung für alle. Auf drei 
          etwa vier Meter langen Papierstreifen entfaltet sich die Historie als 
          lebendiges Mosaik in vielen Stichworten. Gruppen interpretieren die 
          gesammelten Informationen und präsentieren ihre Interpretationen 
          der Geschichte der Organisation, der beteiligten Men-schen und der Gesellschaft 
          dem Plenum. Dort wird reflektiert, was das ganze für die Zukunft 
          bedeutet.
          
          Der Rückblick in die Vergangenheit baut Gemeinschaftsgefühl 
          auf. Man hat ja gemeinsam sonnige Tage des Erfolgs und dunkle Nächte 
          des Mißerfolgs durchlebt, sich in Zuständen des Optimismus 
          wie der Niedergeschlagenheit befunden und macht sich jetzt bewußt, 
          daß man schon lange in einem Boot sitzt. Und daß das auch 
          in Zukunft wohl so bleibt. Mit dieser weitesten Betrachtung der Konferenzthematik, 
          die sowohl die beteiligten Menschen wie die Welt einschließt, 
          wird die Basis für eine "Verengung des Trichters" hin 
          zu spezifischeren Themen geschaffen. Man darf die Bedeutung dieses ersten 
          Schritts nicht unterschätzen. Er schafft die emotionale Basis für 
          einen konstruktiven Dialog, wenn in den nachfolgenden Phasen die Themen 
          schwieriger werden.
          
          Den ganzen Elefanten erkennen
          
          In der zweiten Phase geht es um die Untersuchung der Gegenwart, der 
          heutigen Realität im Umfeld und innerhalb der Organisation. Für 
          den ersten Teil, die Umfeldanalyse, werden (wenn es sich um ein Unternehmen 
          handelt) die Entwicklungen und Ereignisse auf Seiten der Kun-den, der 
          Gesetzgebung, der Lieferanten, der Technologie, des Arbeitsmarktes etc. 
          in die Be-trachtung einbezogen. Im Plenum entsteht dann eine große 
          "mind map", eine bildhafte "Landkarte" der Kräfte, 
          die die Zukunft des Unternehmens beeinflussen - komplex und für 
          viele verwirrend, eben so wie die Realität. Teilnehmende Kunden 
          und andere externe Partner des Unternehmens bringen oft wichtige Perspektiven 
          ein. Nun erkennen viele zum ersten mal das ganze Bild. Auch in dieser 
          Phase wird nicht nur Information übertragen, es entsteht auch ein 
          Gefühlszustand, nämlich eine oft stille Nachdenklichkeit über 
          den umfassenden Wandel und das Bewußtsein, daß man etwas 
          ändern muß. Die Trends werden schließlich von den Teilnehmern 
          mit Punkten gewichtet. Danach werden sie von den einzelnen Tischen eingehend 
          auf ihre Konsequenzen hin analysiert. Was haben wir bis heute getan 
          und was müssen wir künftig tun, um für diese externen 
          Entwicklungen gerüstet zu sein? Bei der Bearbeitung dieser Fragen 
          kehrt sich die Nachdenklichkeit um in anpackende Energie.
          
          Im zweiten Teil der zweiten Phase steht das Innenleben des Organisation 
          oder des Konferenzthemas auf dem Programm. "Worauf sind wir stolz 
          und was bedauern wir an der heutigen Situation - insbesondere an unserem 
          eigenen Beitrag dazu?" heißt die Frage für die Tische 
          (die in dieser Phase nach Interessengruppen geordnet sitzen). Nach bisherigem 
          Muster sammeln die Gruppen Wahrnehmungen, interpretieren diese und präsentieren 
          ihre Ergebnisse im Plenum. Die Frage nach Stolz und Bedauern macht gemeinsame 
          Werte bewußt. Sie führt häufig zu einem umfangreichen 
          Austausch an Informationen und Aha-Erlebnissen. Man nimmt wahr, wie 
          andere wahrnehmen, und entwickelt Verständnis. Es wird deutlich, 
          was man in die Zukunft mitnehmen und was man zurücklassen will. 
          Die Teilnehmerschaft beginnt sich als ganzes für offensichtlich 
          gewordene Schwächen verantwortlich zu fühlen.
          
          Die Zukunft inszenieren
          
          Nun ist die Zeit reif für den Entwurf der Vision, die dritte Phase 
          der Konferenz. Diese soll keine reine Kopfarbeit werden, sondern den 
          ganzen Menschen mit seiner Phantasie, seinen Intuitionen, seinen Werten 
          und Gefühlen aktivieren. Das "Herz" der Teilnehmer soll 
          erreicht werden. Daher werden nicht einfach "Statements" formuliert, 
          denn das wäre reine Kopfarbeit. Vielmehr wird mit kreativen Mitteln 
          die gewünschte Zukunft des Unternehmens anschaulich und lebendig 
          dargestellt. Die Gruppen erhalten alles, was man zum Gestalten braucht: 
          Farbige Stifte, buntes Papier, alte Zeitschriften, Klebstoff und Scheren. 
          Und sie erhalten die Aufgabe, sich von der heutigen Realität nicht 
          einengen zu lassen und ein phantasievolles und innovatives Bild der 
          Zukunft in fünf bis fünfzehn Jahren zu entwerfen. Dabei geht 
          es nicht um konkrete Lösungen und Strategien, sondern um einen 
          idealistischen, gewünschten und zugleich ins Umfeld passenden Entwurf 
          für das ganze System.
          
          Die Präsentation der Visionen ist immer wieder ein bewegendes Erlebnis. 
          Die Zukunft entsteht in Collagen, Sketchen, Modellen, Zeitungsartikeln,TV-Dokumentationen, 
          Reden, Briefen, Firmenzeitungen und Versen. Mit ungeheurer Begeisterung 
          werden diese dargestellt. Der Raum ist voll Energie, die Zukunft wird 
          lebendig und ihre magnetische Anziehungskraft wird für alle spürbar. 
          Nach den Präsentationen werden die Gemeinsamkeiten im Plenum herausgearbeitet. 
          Die Teilnehmerschaft findet sich dadurch in ihren gemeinsamen Zielen, 
          Wünschen, Hoffnungen und Idealen. Es entsteht der Wille, diese 
          Zukunft zu erschaffen - und zwar mit dieser Gruppe.
          
          Gemeinsame Ziele herausschälen
          
          Die Visionen der Tische driften kaum auseinander, vielmehr erweisen 
          sie sich als erstaunlich kohärent. Der Grad der Überlappung 
          ist groß. Nun muß herauskristallisiert werden, in welchen 
          Zielen sich alle Anwesenden einig sind. Die Tische erarbeiten das Gemeinsame 
          zuerst für sich, dann kommen jeweils zwei Tische zusammen und schließlich 
          sitzt das Plenum vor einer großen Wand und sichtet die gemeinsamen 
          Ziele. Diese vierte Phase ist kritisch und findet daher am frühen 
          Morgen des dritten Tages der Konferenz statt, wenn alle - einschließlich 
          der Moderatoren - noch hellwach sind. Dort, wo Ziele streitig sind und 
          das auch nach Beseitigung von Mißverständnissen, die sich 
          aus der Formulierung ergeben, noch bleiben, werden diese Ziele ganz 
          einfach aussortiert. Mit 50 oder 70 Personen lassen sich solche Streitpunkte 
          nicht ausdiskutieren. Doch das ist auch nicht nötig. Die Gemeinsamkeiten 
          sind in aller Regel sehr groß. Es bleibt ein Fundus gemeinsamer 
          Ziele, der große Möglichkeiten für gemeinsames Handeln 
          bietet. Die Teilnehmer erleben nun, wo alle gemeinsam stehen. Und das 
          hat Einfluß auf die nachfolgende Planung. Es ist viel leichter, 
          sich für Ziele einzusetzen, die von vielen anderen geteilt werden.
          
          Die streitigen Ziele verschwinden im übrigen nicht in der Versenkung. 
          Sie werden auf einer Wand mit der Überschrift "Ungelöste 
          Differenzen" gesammelt und dokumentiert. Falsche Harmonie soll 
          nicht vorgespiegelt werden.
          
          Maßnahmen planen 
          
          Die Zukunftskonferenz biegt nun mit Energie und in gewissem Sinne mit 
          "Tempo" in die Zielgerade ein. Es geht in der fünften 
          und letzten Phase um die Erarbeitung der Maßnahmen. Die gemeinsame 
          Basis dafür ist geschaffen und der Wille ist da. Er wird überdeutlich, 
          wenn die ModeratorInnen nach Freiwilligen fragen, die für ein von 
          ihnen gewähltes Ziel mit einer Freiwilligengruppe die Maßnahmen 
          erarbeiten wollen. Sofort gehen zehn bis 15 Hände hoch - denn jetzt 
          wollen die Teilnehmer loslegen. Um die Energieträger, die die Gruppen 
          initiieren, scharen sich Freiwillige, die dann etwa zwei Stunden zusammen 
          den Weg in die Zukunft skizzieren. Manchmal geschieht das in zwei zweistündigen 
          Runden hintereinander.
          
          Die Ergebnisse werden am Ende von den Gruppen im Plenum präsentiert 
          - das steigert die Ver-pflichtung. Manche Gruppen planen noch Termine, 
          wann sie sich wieder treffen. Nachdem die Gruppen sich neben ihrem Flipchart 
          haben fotografieren lassen, gehen die Teilnehmer mit der Gewißheit 
          nach Hause, nicht nur eine gemeinsame Vision entworfen und gemeinsame 
          Ziele vereinbart, sondern auch konkrete Schritte eingeleitet zu haben. 
          Die Skepsis zu Beginn der Konferenz hat sich in Optimismus verwandelt. 
          Dieser Zuwachs an Energie bleibt meist nicht auf die Teilnehmer der 
          Zukunftskonferenz beschränkt, er überträgt sich oft von 
          allein auch auf andere, beispielsweise Kollegen.
          
          
          Materielle und immaterielle Ergebnisse
          
          Auf der greifbaren Ebene erzeugen Zukunftskonferenzen konkrete Ziele 
          und Maßnahmen und oftmals innovative Durchbrüche. Auf der 
          immateriellen Ebene entwickeln sie die Energie und Kultur der Organisation. 
          Gemeinsame Werte werden bewußt. Ressorts und Abteilungen bauen 
          Vorurteile ab und entwickeln Verständnis füreinander. Ängste 
          werden durch Elan ersetzt. Und nicht zuletzt entsteht das Gefühl, 
          eine große Gemeinschaft zu sein, die eine wertvolle Vision verwirklichen 
          will. Zukunftskonferenzen sind Arbeit, doch zugleich sind sie ein großes 
          Ritual und ein Gipfelerlebnis, das den Geist der Organisation oder des 
          Unternehmens formt.
          
          Natürlich muß hier auch die Frage gestellt werden, ob dieWirkungen 
          einer Zukunftskonferenz nachhaltig sind. Wird tatsächlich alles 
          umgesetzt? Nimmt der Energieschub nicht schnell wieder ab? Die Erfahrung 
          zeigt, daß tatsächlich sehr viel umgesetzt wird, mehr als 
          bei den meisten anderen Methoden der Planung. Gefördert wird die 
          Intensität der Umsetzung, wenn man es nicht bei einer Veranstaltung 
          beläßt. Der gleiche Kreis kann sich nach sechs bis zehn Monaten 
          wieder für einen halben Tag treffen. Jede Gruppe berichtet dann 
          von ihren Aktivitäten und plant weitere Schritte.
          
          Zukunftskonferenzen sind ein Instrument, dessen Zeit gekommen ist. Sie 
          sind einfach und radikal. Sie nutzen die Fähigkeiten des ganzen 
          Systems, um das ganze System einschließlich seiner Vergangenheit, 
          Außenwelt und beteiligten Menschen, der Fakten, Wahrnehmungen 
          und Werte zu analysieren. Sie sind die Bühne für den Entwurf 
          der Vision und der Ziele für das ganze System und aktivieren das 
          ganze System. Zukunftskonferenzen sind ein Schlüsselwerk-zeug ganzheitlichen 
          Führens. Ihre Ergebnisse sind sehr lohnend.
           
        
 
        