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GESCHICHTEN - DIE TUGENDEN DER WÜSTE

 

Matthias zur Bonsen


Diese Geschichte wurde für ein Bergbau- und Stromerzeugungsunternehmen geschrieben, das aufgrund der Deregulierung des Strommarktes enorme Rationalisierungsanstrengungen unternehmen mußte. 30% der Belegschaft sollten in den nächsten fünf Jahren abgebaut werden. Und in der gleichen Größenordnung hatte man auch schon in den vergangenen Jahren rationalisiert.

Der Vorstand erkannte, dass die anspruchsvollen Ziele besser erreicht würden, wenn sich die sehr hierarchieorientierte Kultur verändern würde. Zu diesem Zweck wurde unter anderem eine Konferenz (ein Appreciative Inquiry Summit) abgehalten. Die folgende Geschichte stellt die entbehrungsreichen nächsten fünf Jahre als einen Marsch durch die Wüste dar. Und in der Wüste entdecken alle die Tugenden der Wüste - und die werden das geistige Fundament einer neuen Stadt. Doch entdecken Sie selbst.....

Diese Geschichte wurde dann im übrigen in der Konferenz vom Vorstand doch nicht erzählt. Er hatte sich von ängstlichen Stabsleuten kurz vorher noch beeinflussen lassen. Am Abend des ersten Konferenztages kam er jedoch zu uns und sagte, diese Entscheidung sei ein Fehler gewesen. Die Konferenz war allerdings auch so ein großer Erfolg.



Es war einmal eine blühende Stadt in einem fruchtbaren Landstrich am Ufer des Meeres. Die Bewohner dieser Stadt lebten lange glücklich und ohne Sorgen. Die Sonne schien warm vom Himmel, die Wiesen waren grün und die Felder fruchtbar. Handwerk und Handel blühten und verschafften den Bewohnern der Stadt ein komfortables und gesichertes Leben. Die Stadt hatte auch das alleinige Recht des Handels auf dem angrenzenden Meer. Seit je her fuhren ihre wendigen und robusten Schiffe zu anderen Städten an anderen Gestaden des selben Meeres, verkauften dort ihre Waren und kamen mit Truhen voller Kleinodien zurück. Strenge Gesetze, die rund um das Meer anerkannt wurden, sorgten dafür, dass auf diesem Meer nur die Schiffe dieser Stadt fuhren.

Die Stadt war im Laufe der Zeit gewachsen. Eigene Viertel und Stadtteile hatten sich entwickelt. Ein Viertel hieß UNTERNEHMEN, andere trugen ihre eigenen Namen. Die Viertel und Stadtteile entwickelten im Laufe der Zeit ihren eigenen Bräuche und Sitten. Sie bauten ihre eigenen Rathäuser und Türme und ließen ihre eigenen Flaggen wehen. Das ging so weit, dass man sich zum Teil nicht mehr so gut zwischen den Vierteln verstand und dass Zäune und Mauern zwischen ihnen aufgebaut wurden. Doch der Zusammenhalt war immer noch ausreichend, um weiter Handel zu treiben und den eigenen Reichtum zu mehren. Die Zeiten waren gut, und so sollte es bleiben.

Doch es kam anders. Veränderungen, die sich zu einer machtvollen Welle auswachsen sollten, deuteten sich an. Ein Prophet war schon Jahre zuvor durch die Stadt gezogen und hatte magere Jahre vorausgesagt. Kaum jemand hatte ihm geglaubt. Nun aber kam tatsächlich die Zeit, wo sich das Handelsmonopol auf dem Meer nicht mehr aufrecht erhalten ließ. Die anderen Städte waren selbstbewußter geworden und begehrten auf. Sie wollten selbst Schiffe über das Meer fahren lassen und Waren anbieten - und das sogar billiger, wie sie behaupteten. Diese Ankündigung sollte sich als richtig erweisen. Kaum hatten andere Städte eigene Flotten gebaut, gerüstet und über das Meer geschickt, sanken auch schon die Preise auf den Märkten.

Da war guter Rat teuer. Es ging plötzlich um nichts weniger als das Überleben der Stadt. Vieles, was sich zu Zeiten des Monopols als Vorteil erwiesen hatte, kehrte sich jetzt in einen Nachteil um. Die Stadt hatte immer gute Arbeitsmöglichkeiten und viel Sicherheit bieten können und von nah und fern viele Bewohner angezogen, die große Talente mitbrachten, aber auch gut gestellt sein wollten.

Die Stadt hatte außerdem viele Regeln entwickelt, nach denen der Handel abzulaufen hatte. Es gab Zünfte und Innungen, die bestimmten, wie die Produktion zu geschehen hatte und wie der Handel und die Verteilung durchzuführen waren. Denn Störungen sollten absolut ausgeschlossen sein. Alles sollte entsprechend den Regeln laufen. Daher wuchs über viele Jahre die Zahl der städtischen Beamten, die diese Regeln immer weiter verfeinerten und ihre Einhaltung überwachten. Tatsächlich waren die Produktion und der Handel auch immer völlig problemlos gelaufen.

Nun aber waren die Vorteile von einst zum Hindernis geworden. Nachdem eine immer größere Zahl von Städten auf dem gleichen Meer Handel trieb, war die Sicherheit der Versorgung nicht mehr das wichtigste. Jetzt kamen die Händler zum Zuge, die auf den Märkten rund um das Meer die niedrigsten Preise anbieten konnten. Und es wurde wichtiger, sich rasch an neue Gegebenheiten und die Wünsche der Kunden anpassen zu können. Die ehrwürdigen Regeln und die gewachsenen Beamtenheere waren für diese neuen Zeiten zu starr. Und mit den gesunkenen Preisen ließ sich die in den Wohlstandszeiten angeschwollene Bewohnerzahl nicht mehr in gewohnter Weise ernähren.

Der Oberbürgermeister der Stadt und die Bürgermeister der Stadtteile berieten deshalb lange und ausgiebig, was zu tun sei. Sie zogen auch Bürgervertreter der verschiedenen Stadtteile zu Rate. Die Meinungen, was zu tun sei, gingen weit auseinander.

Da gab es diejenigen, die sagten, die Situation werde schon vorbei gehen und dann werde alles so wie früher, es gebe keinen Grund zur Aufregung.

Es gab auch Bürger, die den Standpunkt vertraten, jetzt müsse entschieden gespart werden, vor allem in den anderen Stadtvierteln, man selbst sei im Grunde genommen gar nicht betroffen.

Andere wiederum meinten, die Vorratsräume und Schatztruhen seien doch reich gefüllt. Man könnte doch einfach in Ruhe abwarten.

Einige waren mutlos, wollten aufgeben und auswandern.

Schließlich gab es noch eine Gruppe Unerschrockener, die wirklich nach neuen Wegen suchen wollte.

Nach etlichen Krisensitzungen traten der Bürgermeister und die Spitzen des Stadt-rats auf den Rathausbalkon und verkündeten den Bewohnern der Stadt folgende Botschaft:

  1. Wir geben mehr aus, als wie verdienen. Das geht auf die Dauer nicht gut.

  2. Die Produkte, von deren Verkauf wir leben, sind jetzt, wo wir mit anderen Hafenstädten im Wettbewerb stehen, zu teuer. Wenn wir das nicht ändern, sind wir bald pleite.

  3. Was die anderen Städte können, können wir auch. Vielleicht sogar etwas besser, weil wir viel Erfahrung haben und weil viele unsere Bewohner ihre Berufe meisterlich beherrschen.

  4. Wir wollen uns deshalb das Ziel setzen, auf den Märkten rund um das Meer als der kostengünstigste und beste Anbieter zu gelten.

  5. Ob wir dieses Ziel erreichen, können wir nicht mit letzter Sicherheit sagen. Es ist aber klar, dass es dazu keine Alternative gibt - also werden wir es versuchen.

Und sie fassten einen Plan, der erfolgversprechend, aber auch unerhört herausfordernd war. Die ganze Stadt und alle Stadtteile müssten sich ändern, beschlossen sie. Eine viel günstigere Position für den Handel sei zu finden, ein Platz, an dem die alten Gewohnheiten und Regeln keine Geltung mehr haben würden. Und sie entschieden, dass die ganze Stadt sich auf den Weg machen und sich an einem geeigneteren Gestade des selben Meeres wieder niederlassen solle.

Der neue Platz konnte naturgemäß nicht in der Nachbarschaft liegen. Denn dann hätte sich nicht viel geändert. Es wurde ein Platz gesucht und gefunden, der weit entfernt lag und der nur durch eine lange Reise zu erreichen war. Diese Reise führte durch eine große und gefährliche Wüste. Die Wüste, durch die nun alle hindurch sollten, war unwirtlich und unwegsam. Kaum einer hatte sich bisher in sie hineingewagt. Die Sonne brannte tagsüber ohne Unterlaß, doch in den Nächten wurde es oft bitterkalt. Oasen und Wasser gab es kaum, dafür machten Schlangen und Sandstürme dem Wanderer das Leben schwer. Es würde ein mehrjähriger Marsch voller Entbehrungen werden. Es würde eine große Prüfung werden, die den Mut und die Entschlossenheit aller bis auf das äußerste fordern würde.

Die Reisevorbereitungen wurden getroffen. Es konnten nicht alle zusammen marschieren, doch sollten sich die Stadtviertel bei ihrer Reise auch nicht zu weit voneinander entfernen. Man überlegte, welche Viertel sich allein und welche sich gemeinsam auf den Weg machen sollten. So bekam das Viertel Rheinbraun ein anderes Viertel zur Seite gestellt, dessen Bewohner sich ausgezeichnet auf das Feuer-machen verstanden. Das sollte in den kalten Nächten noch nützlich sein.

Eine besonders schwierige Frage war, wie mit der großen Zahl der Bewohner der Stadt umgegangen werden sollte. Klar war, dass auch am neuen Ort nicht alle in gewohnter Weise würden ernährt werden können. Sollte man Jüngere zurücklassen, in der Hoffnung, dass sie sich in andere Städte würden durchschlagen können? Könnte man auf die Älteren verzichten, deren Erfahrung und Wissen beim Aufbau der neuen Stadt hilfreich sein würden?

Man rang lange um die richtige Entscheidung. Und kam endlich zu dem nicht ganz leichten Entschluss, die jüngeren Bürger mitzunehmen. Denn sie hatten kaum Chancen, in anderen Städten eine neue Heimstatt zu finden. Die Alten, die in ihrem langen Arbeitsleben meist bereits ansehnliche Besitztümer erwirtschaftet hatten, sollten den beschwerlichen Marsch durch die Wüste nicht mehr mitmachen müssen. Sie sollten aber aus den Tresoren und Truhen der Stadt so viel Gold und Geld erhalten, dass sie am alten Standort ohne Sorgen würden weiter leben können.

Die Stadt machte sich auf den Weg. Das eine Viertel früher, das andere später. Die Bürgermeister hatten nichts Falsches versprochen. Die Reise wurde überaus beschwerlich. Es ging ja nicht nur darum, auf dem Weg voranzukommen. Nebenher mußten auch Waren erzeugt und mit kleinen Trupps zu anderen Städten geschickt werden. Die Reisenden schwitzen am Tage und froren in den Nächten. Der Mut und die Entschlossenheit ließen bei einigen nach. Zweifel, Fragen und Ängste tauchten auf. Werden wir jemals die neue Stadt erbauen?, fragten einige. Sollten wir uns nicht besser von den anderen Vierteln trennen und eine eigene Stadt erbauen?, fragten sich die anderen.

Es zeigte sich auch, dass die Ordnungen und Regeln der Zünfte und Innungen und auch viele andere Gewohnheiten und Bräuche, die sich früher an festem Standort als wirkungsvoll erwiesen hatten, jetzt immer hinderlicher wurden und das Vorankommen erschwerten. Sie waren wie schweres Gepäck, das man unnötig mitschleppte. Einzelne Gruppen konnten auf der Reise ihre Etappenziele nur mit Mühe erreichen. Unter den Bedingungen der Wüste musste aus der früher vielfältig gegliederten Stadtstruktur eine verschworene Gemeinschaft werden. Es war klar geworden, dass die Bewohner der Stadt auf dieser Reise durch die Wüste über sich hinauswachsen mußten, um ihr großes Ziel erreichen zu können. Die Bürgermeister beschlossen daher, eine dreitägige Rast und innere Einkehr zu halten.

An einem geeigneten Ort schlugen alle ihre Zelte auf, zündeten ein großes Lagerfeuer an begannen ihre Beratungen. Man untersuchte, welche Bräuche auf der Reise am hilfreichsten waren und verstärkt werden sollten und welche die Reise am meisten behinderten. Man entwarf ein gemeinsames Bild davon, wie die Reise am besten vor sich gehen solle und welche der Tugenden von der Reise man auch in der künftigen neuen Stadt leben wolle.

Neben vielem anderem kam man darauf, dass in der Wüste die starren Regeln der Innungen und Zünfte von damals keinen Sinn machten. Denn in der Wüste lauern jederzeit Überraschungen und Gefahren, auf die man rasch und in ganz neuer Weise reagieren mußte.

Früher in der Stadt hatten die Heere der Beamten viel Zeit damit verbracht, jeden Vorgang nicht nur zweckmäßig, sondern auch schön zu gestalten. Zahlreiche Pergamente wurden kunstvoll beschrieben. Gerade die Bürgermeister und die Herren der Innungen und Zünfte forderten, dass alles Schriftliche der Stadt zur Ehre gereichen solle. Jetzt in der Wüste war diese alte Gewohnheit nur hinderlich.

Dann stellte man fest, dass man in der Wüste besser vorankam, wenn man sich in kleine Gruppen aufteilte, und wenn diese Gruppen selbstständig entscheiden konnten. In der Wüste war es einfach zu mühsam, immer einen Boten zum Bürgermeister oder Zunftherrn zu schicken. Dadurch ging nur wertvolle Zeit verloren.

So wurden auf dieser dreitägigen Rast viele neue Sitten und Methoden gefunden, die in der Wüste hilfreich waren. Sie wurden von allen die Tugenden der Wüste genannt.

Die Reise war von Anfang bis Ende eine Strapaze. Sie forderte alle und alles. Die neuen Bräuche und Regeln, die das Überleben in der Wüste erleichterten, setzten sich nur nach und nach durch. Was am festen Standort eine Gesellschaft war, wurde nur langsam zur Gemeinschaft. Es mußte noch mehrmals Rast gehalten werden, um sich von Neuem darauf zu verständigen, welches alte, unnötige Gepäck man zurücklassen wollte. Von Station zu Station wurde dieses Gepäck dann weniger. Und alle stellten fest, dass es sich mit weniger Gepäck leichter reisen läßt.

Schließlich, nach fünf langen und entbehrungsreichen Jahren, war es geschafft. Die Bewohner der Stadt kamen an ihrem neuen Standort an. Und sie begannen, ihre neue Stadt zu bauen. Sie beschlossen gleich zu Anfang, alles, was sie auf der Reise durch die Wüste gelernt hätten, in die Planung der Stadt und neuen Lebensgemeinschaft einzubeziehen. Zum Beispiel sollten zwischen den Vierteln und Stadtteilen keine Zäune und Mauern mehr entstehen. Denn man wollte eine große Stadt ohne Grenzen und voller Durchlässigkeit schaffen. So arbeiteten die Stadtviertel phantastisch zusammen, jeder machte das, was er am besten konnte. Alle unterstützen sich gegenseitig.

Die Tugenden der Wüste - Mut, Entschlossenheit, Einfachheit, Hilfsbereitschaft, Vertrauen, Selbständigkeit und einige andere mehr - hatten sich tief in das Gedächtnis der Bewohner der neuen Stadt eingegraben. Man versprach sich, diese Tugenden nie mehr zu vergessen. Auch dann nicht, wenn es wieder allen gut gehen würde. So wurden diese Tugenden das Fundament für ein neuerliches Aufblühen von Handel, Handwerk und Kultur. Die Fähigkeiten und Künste der neuen Stadt wurden weit gerühmt. Ihre Waren wurden in allen Häfen des Meeres sehr gefragt. Und die Bewohner der Stadt konnten sie jetzt überaus günstig herstellen und waren jedem Wettbewerb gewachsen.

In der neuen Stadt herrschte eine große Gemeinschaft und eine Harmonie, die über jeden Streit hinweg trug. Es war eine lebendige, pulsierende Stadt. Jeder bekam dort Freiraum, jeder konnte das Beste in sich hervorbringen. Die Augen der Bewohner leuchteten. Sie waren stolz auf das Erreichte und sie lachten viel.

In regelmäßigen Abständen kamen die Bewohner der Viertel und Nachbarschaften auf ihren zentralen Plätzen zusammen. Immer wieder wurden die Geschichten erzählt, wie es damals in der Wüste war, wie man fast verzweifelte und dennoch durchhielt. Immer wieder wurde mit den alten Geschichten bewußt gemacht, was einem in kritischen Situationen weitergeholfen hatte und was man nie mehr vergessen wolle: Die Tugenden der Wüste.