Storytelling
am Arbeitsplatz.
Der Berührungspunkt von Seele und Gemeinschaft
Sabine Bredemeyer
Als ich 1999 an der "International Conference on Business &
Consciousness" teilnahm, besuchte ich einen Workshop von Martin
Rutte, einem bekannten amerikanischen Unternehmensberater und Co-Autor
des Bestsellers "Chickensoup for the Soul at Work". Ich wußte
nicht, was mich erwartete, und harrte gespannt der Dinge, die da kamen.
Und ich sollte wirklich überrascht werden. Denn nachdem zunächst
Martin Rutte vor die etwa 150 Menschen trat und ein paar Geschichten
aus seinem Buch erzählte, fingen plötzlich die Teilnehmer
an, eigene Geschichtenpreiszugeben. Geschichten aus ihrem Leben, ganz
offen - wie unter guten Freunden, obwohl sie sich vorher noch nie begegnet
waren. Es waren berührende Geschichten, fröhliche und solche,
die zum Nachdenken anregten. Wenn ich selbst vor Rührung Tränen
in die Augen bekam und mich etwas verschämt umschaute, sah ich
viele, denen es offensichtlich genau so ging wie mir. Ich hatte noch
nie - außer vielleicht in Community Building Workshops - erlebt,
dass sich alle Teilnehmer gemeinsam in so kurzer Zeit von den Mitteilungen
anderer so bewegen lassen. Wir hielten die Luft vor Spannung oder Erstaunen
an, weinten und lachten zusammen und spürten, dass hier etwas ganz
Besonderes passiert.
Anscheinend durchlebten wir Zuhörer alle gemeinsam die Lebenssituationen
derjenigen, die aufstanden undberichteten. Und ich wagte sogar, eine
Geschichte zu erzählen, die ich so offen bisher nur meiner besten
Freundin anvertrauthatte. Beeindruckend war für mich auch, dass
die 150 Teilnehmer dieses Workshops hinterher im Rahmen der Konferenz
zu einer "besonderen" Gruppe wurden. Ich selbst kannte danach
fast jeden aus diesem Workshop und hatte zu ihnen ein viel vertrauteres
Verhältnis, als zu den 250 anderen. Und dieses für mich intensive
Erlebnis eines Storytelling Workshops bewog mich, mich intensiver mit
dieser Methodezu beschäftigen.
Der uralten Kunst des Geschichtenerzählens und ihrer geradezu lebensnotwendigen
Bedeutung für uns Menschen wurde in den U.S.A. vor ungefähr
30 Jahren durch die Gründung der National Storytelling Association
Rechnung getragen. Sie wurde das Dach für zahllose Vereine, Verbände
und Gemeinschaften, die Storytelling seither auf allen Ebenen fördern
und weiterentwickeln. Sie alle haben sich eine besondere Mission auf
die Fahnen geschrieben haben: die Kunst des Geschichtenerzählens
als darstellende Kunst, als Lernhilfe und als kulturellen Transformationsprozess
weiterzuentwickeln. Sie unterscheiden sich durch ihre Zielgruppen und
durch die Lebensbereiche, für die sie Storytelling perfektionieren.
In Unternehmen setzen amerikanische Berater und Trainer Storytelling
mit Erfolg dazu ein, Eigenverantwortlichkeit und Kommunikationsfähigkeit
von Führungskräften und Mitarbeitern zu erhöhen, die
Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen zu verbessern, Mitgefühl
und Verständnis zu schaffen, Teamentwicklung zu fördern, Konflikte
zu lösen und Motivation, Visionsfähigkeit und Inspiration
in Unternehmen zu steigern.
Dass ein so simples Instrument wie Geschichtenerzählen so tiefgreifende
Auswirkungen hervorbringen soll, klingt zunächst unwahrscheinlich.
Sieht man sich jedoch die "Geschichte des Gchichtenerzählens"
an, werden diese Ergebnisse nachvollziehbar.
Geschichten haben unsere Vorfahren schon erzählt, als wir uns vor
vielen Millionen Jahren schutzsuchend um ein Feuer versammelten. Während
die Scheite prasselten und die Glut ihre Wärme ausstrahlte, gaben
wir Geschichten weiter, um Wissen zu vermitteln, Geschehnisse zu interpretieren
und Erfahrungen auszutauschen. Wenn wir heute zu zweit oder in einer
Gruppe zusammenkommen, erzählen wir uns ebenfalls Ereignisse in
Form von Geschichten. Diese enthalten nicht einfach Daten und Fakten,
sondern vermitteln auch unsere Gefühle, unseren Blickwinkel und
unsere Beurteilung des Geschehenen oder machen deutlich, dass wir gerade
genau danach suchen. Durch unsere Geschichten realisieren wir selbst
und unsere Zuhörer, wie wir uns mit dem Erzählten fühlen
und geben der gelebten Erfahrung Bedeutung. Manchmal erfinden wir neue
Geschichten, in denen wir zu leben oder zu arbeiten wünschen. Und
wenn wir aufmerksam uns oder anderen zuhören, dann entdecken wir
in den Geschichten auch Muster oder Glaubenssätze, die in unserem
Leben zum Thema geworden sind.
Wenn wir Geschichten zuhören, können wir uns in den Erfahrungen
anderer wiederfinden. Wir entdecken unvermutete Gemeinsamkeiten oder
können die Einzigartigkeit des Erzählers erkennen. Geschichten
eröffnen die Möglichkeit, einander tiefgreifend zu verstehen,
Vorurteile abzubauen und einander in unserer Vielfalt zu respektieren.
Wenn wir selbst Geschichten erzählen, machen wir die Erfahrung,
verstanden zu werden. Mehr und mehr Menschen leiden heute darunter,
dass sie sich unverstanden fühlen. Gibt man ihnen die Möglichkeit,
ihre Geschichten zu erzählen, ist dies ein sehr heilsamer Prozeß.
Kulturen haben ihre "großen Erzählungen". Das sind
ihre Interpretationen tatsächlicher oder eingebildeter historischer
Ereignisse. Und mit diesen Geschichten geben sie sowohl ihre Weisheit
wie ihre Vorurteile und Glaubenssysteme an nachfolgende Generationen
weiter. Dass Eva aus einer Rippe Adams erschaffen wurde und dass sie
den unschuldigen armen Kerl verführt hat, einen Apfel zu essen,
beeinflußt bis heute unser Bild der Frau in der abendländischen
Welt. Doch nicht nur in den ganz alten Kulturen ist das (Un)Wissen in
Geschichten kodiert. Auch jüngere Kulturen (Nationen, Landsmannschaften)
haben ihre eigenen typischen Geschichten. Die Preussen haben sich vielleicht
Geschichten vom "Alten Fritz" erzählt, dem König,
der Pflichterfüllung über alles stellte. Und das hat veranschaulicht,
was es heißt, ein Preusse zu sein.
Dann gibt es in allen Teilen der Welt Mythen, Märchen und heilige
Schriften, die universelle Wahrheiten transportieren. Joseph Campbell,
einer der berühmtesten Mythenforscher hat festgestellt, dass sie
oft eine gemeinsame Struktur haben, die er die "Reise des Helden"
genannt hat. Solche Geschichten vermitteln tiefe Einsichten, Mut und
Weisheit. Sie unterstützen uns darin, auch tiefgreifende persönliche
Veränderungen zu meistern, und verhelfen uns zu einer sensibleren
Wahrnehmung in unserer Interaktion mit anderen Menschen.
Solche Erkenntnisse über die Funktion und Wirkung von Geschichten
veranlassten Martin Rutte dazu, das Geschichtenerzählen in die
Unternehmen zu tragen. Er schreibt dazu aus seiner Erfahrung: "Als
Berater ist es wichtig zu wissen, dass die Teilnehmer zunächst
sehr sehr skeptisch sind. Sie haben vorher niemals eine solche Erfahrung
gemacht. Es ist so sanft und einfach. Das kennen sie nicht. Wenn dann
der Berater beginnt, Geschichten zu erzählen, kann man beobachten,
wie sie immer entspannter werden. Sie bemerken plötzlich die Kraft
in ihren eigenen Geschichten. Sie wissen, dass gute Geschichten Werte
vermitteln, die sie gern in der Welt sehen würden. Und dann, wenn
sie sich sicher genug fühlen, beginnt jemand "Wissen Sie,
da fällt mir eine Geschichte ein, die vielleicht dazu passen könnte".
Und dann beginnen sie, Ihnen ihre Geschichten zu erzählen. Und
wenn das passiert, verändert sich die Energie im Raum. Die ganze
Atmosphäre wandelt sich. Die Teilnehmer entspannen. Die Menschen
teilen sich mit. Sie verbinden sich mit der Menschlichkeit der anderen
im Raum. Kürzlich las ich dass eine Frau sagte:&Mac226; Stories
sind die Verbindung zwischen der Seele und der Gemeinschaft."
Mit Großgruppen-Interventionen ist Storytelling in verschiedener
Weise verbunden.
Harrison Owen, in dessen Sicht die Mythen für ein Unternehmen dasselbe
sind, was die DNA für den Organismus ist, untersucht manchmal vor
einer Open Space-Konferenz mittels Interviews, welches die Geschichten
sind, die in dem Unternehmen erzählt werden. Die sich wiederholenden
Geschichten trägt er vor Beginn des Open Space vor und fragt, ob
das die Geschichten sind, die man sich tatsächlich erzählt.
Und damit liegen möglicherweise sehr unbequeme Wahrheiten gleich
auf dem Tisch. Die nachfolgende Konferenz hat dann das Ziel, die Geschichten
zu erschaffen, die man in Zukunft erzählen will.
Birgitt Williams, eine kanadische Pionierin für Open Space, nutzt
Storytelling häufig am Vorabend einer Open Space-Konferenz. Nachdem
zunächst Geschichten in Paaren erzählt werden, sitzen alle
in einem großen Kreis und erzählen ihre Geschichte dem großen
Plenum. Dieser Prozess dauert oft bis in die Nacht hinein. Denn einmal
begonnen, wollen die Beteiligten gar nicht mehr aufhören, ihre
Geschichten zum besten zu geben.
In Appreciative Inquiry Summits wird sehr gezielt nach den besten, inspirierendsten
Geschichten gesucht, um später eine Organisation zu entwickeln,
die mehr dieser Erlebnisse möglich macht. Wenn innerhalb einer
solchen Konferenz diese Geschichten erzählt werden, wird immer
sehr aufmerksam zugehört. Und bei allen ändert sich ein Stück
die Wahrnehmung von ihrer Organisation.
In der von Merrelyn Emery entwickelten Search Conference sitzen zu Beginn
die bis zu 40 Teilnehmer in einem Kreis und erzählen sich Geschichten
über Höhepunkte oder Wegmarken aus der ferneren und jüngeren
Vergangenheit ihrer Organisation oder Gemeinde. Beginnend mit dem Ältesten
im Raum wird so die Vergangenheit lebendig und entsteht die gemeinsame
Historie neu.
In einer Real Time Strategic Change-Konferenz, die ich zusammen mit
meiner Kollegin Carole Maleh leitete, tauchte eine Geschichte schon
in der Planungsgruppe auf. Ein Mitglied derselben hatte unaufgefordert
eine Art Märchen über die Entwicklung ihres Unternehmens geschrieben
bis zu dem Moment, in dem nun die RTSC stattfinden sollte. Sie hatte
die ganze Geschichte aus den Augen eines Elefanten erzählt, der
zunächst ganz traurig über die Entwicklung des Unternehmens
ist. Die Geschichte endet damit, dass der Elefant plötzlich gleichsam
in einer Fata Morgana neue Möglichkeiten entdeckt. Das Ende blieb
bewusst offen. Diese Geschichte wurde zu Beginn der RTSC Veranstaltung
von der Mitarbeiterin vorgelesen. Nachdem diese Konferenz nach drei
Tagen erfolgreich endete und die Teilnehmer viele neue Möglichkeiten
und Wege gefunden hatten, ihre Zukunft erfolgreich zu gestalten, wurden
die Teilnehmer im Abschlusskreis gebeten, die Geschichte weiterzuerzählen.
Fast jeder der Teilnehmer ergänzte sie um positive Zukunftsbilder,
die sie sich somit alle vorstellen und spüren konnten. Sie lachten
und staunten gemeinsam über das, was der vormals traurige Elefant
alles erlebte. Die Geschichte endete mit einem positiven offenen Ende,
das weitere unerwartete Möglichkeiten erahnen ließ.
Martin Rutte arbeitet mit unterschiedlichen Methoden des Storytelling
und er hat auch seine eigene Methodik entwickelt. Er erzählt zunächst
Geschichten, eigene oder aus seinem Buch "Chickensoup for the Soul
at Work", die thematisch zur Gruppe passen. Die Geschichten in
seinem Buch stammen alle aus dem Kontext der Arbeit in Organisationen.
Sie sind nach Themenbereichen geordnet wie "Kreativität am
Arbeitsplatz", "Hindernisse überwinden", "Über
Mut", "Mitgefühlt", etc. . Sie sind sehr bewegend
und ein ermutigender Einstieg für die Gruppe. Was ein Storytelling
Workshop bewirken kann, beschreibt Rutte so: "Die Menschen erkennen
sich plötzlich als Menschen und nicht als Funktionsträger.
Geschichten inspirieren zu neuen Möglichkeiten und Lösungen
am Arbeitsplatz. Die Teilnehmer entwickeln tiefere zwischenmenschliche
Beziehungen. Vertrauen und die Bereitschaft, gemeinsam Risiken einzugehen,
werden geweckt und gesteigert. Wir entdecken unsere Gemeinsamkeiten
und sind bereit, unsere Unterschiedlichkeit zu repektieren. In einer
sicheren Umgebung können Einsichten und Lektionen leicht auftauchen.
Unzufriedenheit und Negativität konnten durch gemeinsames Lachen
und Weinen, durch berührende Mitteilungen aufgelöst werden.
Die Seelen der Teilnehmer haben sich berührt - und das verbindet."
Wenn er eine Storytelling-Gruppe geleitet hat und die Teilnehmer diese
neue wohltuende Erfahrung gemacht haben, ermutigt Martin Rutte seine
Teilnehmer, solche Gruppen in regelmäßigen Abständen
selbst weiterzuführen. Und in den meisten Fällen folgen die
Teilnehmer diesem Vorschlag.
Geschichten erzählen ist ein uraltes Ritual der Menschheit und
kann in jedem Lebensbereich bereichernd, lehrreich und heilsam sein.
Bewußt eingesetzt in Unternehmen können wir wesentlich dazu
beitragen, die Zufriedenheit und damit die Lebensqualität der Mitarbeiter
zu steigern und Zukunftsszenarien zu kreieren, die von allen gewollt
werden. Ob als Storytelling Gruppe oder eingepaßt in große
Konferenz-designs - Storytelling ist eine Methode, für die die
Zeit nun reif ist.
Aus diesem Grund veranstalte ich in der Nähe von Düsseldorf
am 21. und 22. Oktober 2001 einen Storytelling -Workshop mit Martin
Rutte. Es ist ein Train-the-Trainer Workshop für alle, die dieses
einfache und doch so wirkungsvolle Instrument nutzen wollen. Der Workshop,
zu dem sich auch Teilnehmer aus Neuseeland und Malaysia angemeldet haben,
kostet DM 1.900,- zzgl. MwSt. Weitere Informationen und die Möglichkeit,
sich anzumelden, finden Sie unter www.zukunftskonferenz.de
und dann unter dem Link "Aktuelle Seminare und Workshops".