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VISION - KRAFTQUELLE DES UNTERNEHMENS

 

Matthias zur Bonsen

veröffentlicht in: Hernsteiner 4/99, S. 20-25


Jedes Unternehmen hat eine "Seele", einen innersten Kern. Wenn man diesen Kern kennenlernen will, dann besteht eine Möglichkeit darin, sich die Stunde der Geburt dieses Unternehmen zu betrachten. In der Stunde der Geburt ist alles schon da, schon hier besteht der Kern der sich später meist nur organisch erweiternden Visionen. Daher sind "Schöpfungsmythen" im Unternehmen wichtig, die Erzählungen darüber, wie alles einmal begann. Und deshalb ist es wichtig, sich zu Anlässen wie diesem zurüchzuerinnern, wie es begann und den Traum des oder der Gründer wieder wachzurufen.

Eine Geschichte, die das veranschaulicht, handelt von der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT, die neben Marion Gräfin Dönhoff auch vom Altbundeskanzler Helmut Schmidt herausgegeben wird. Gräfin Dönhoff erzählt die Geburtsstunde der ZEIT folgendermaßen:

"Am 21. Februar 1946 erschien die erste Ausgabe der ZEIT unter der "Zulassung Nr. 6" der britischen Militärregierung. Acht Seiten stark, in einer Auflage von 25.000 Exemplaren, für eine höhere Auflage reichte das rationierte Papier nicht. Jeder Artikel, der in der ungeheizten Redaktionsstube beim Schein selbstgebastelter Petroleumlampen geschrieben wurde, mußte vor dem Druck von dem britischen Presseoffizier genehmigt werden, der häufig Artikel beanstandete. Der erste Artikel, den ich schrieb, wurde verworfen, weil ich es gewagt hatte, über ein zum Tabu erklärtes Thema zu schreiben. DIE ZEIT war damals die einzige Zeitung, die sowohl die alten Nazis wie auch die alliierten Machthaber gleichermaßen kritisierte. Heute erscheint DIE ZEIT in einer Auflage von fast einer halben Million, und aus einem Dutzend Redakteure wurde eine Hundertschaft...."

Der innerste Kern

Wird nicht hier schon die Vision deutlich, die die Gründerin damals hatte, ihre Werte, ihre Glaubenssätze? Und ist der damalige Traum nicht auch heute noch Kern der Vision dieser Zeitung?
August Oetker verkaufte im letzten Jahrhundert als Apotheker Natronpulver an Hausfrauen, die damit Kuchen backten. Wieder und wieder wurde ihm erzählt, daß der Kuchen nicht gelungen sei und ob es wohl am Backpulver liege. Wieder und wieder sah er enttäuschte Gesichter - zu Zeiten, als Lebensmittel etwas sehr Kostbares waren. Da begann er, dieses Pulver genau abzuwiegen, in kleine Tütchen zu verpacken und den Hausfrauen zu sagen, wieviele Tütchen sie für welche Menge Teig nehmen sollten. So entstand die "Geling-Garantie für die Hausfrau" als zentrale Idee des Hauses Oetker.
Zurück zu meiner Eingangsthese: Jedes Unternehmen hat eine "Seele", einen innersten Kern, eine Vision, die schon der Gründer hatte und die im besten Fall noch 50 Jahre später lebendig ist - nur in erweiterter Form. Ein roter Faden, der sich durch die Jahrzehnte zieht.
Denn eine solche Vision kommt nicht von außen - sie kommt von innen - und ausschließlich von innen. Marion Dönhoff hat nicht Kundenbefragungen gemacht, bevor sie die ZEIT gestartet hat. Es war ihr ein inneres Anliegen, genau so eine Zeitung und keine andere zu machen. Mit "genau so eine Zeitung" meine ich nicht das Papierformat, die Farbigkeit der Bilder, das Layout, die Seitenanzahl oder die thematische Aufteilung. Das alles kann von Kundenwünschen abhängen und im Laufe der Zeit variieren. Ich meine damit vielmehr die Qualität, die hinter dem ganzen stehen soll, und die sich am besten durch die zitierte Schöpfungsgeshichte beschreiben läßt.
Und so könnte man ein Beispiel nach dem anderen aufzählen, wo ein Gründer nicht einer Marktanalyse, sondern einem Gewicht in seinem Herzen folgte - eben seiner Vision. Er wußte, daß dieses Gewicht seinen Sinn hat und daß, wenn er ihm nachgab, der Erfolg erfolgte. Ideen für Produkte und anderes sind dann vielleicht fehlgeschlagen und wurden korrigiert, doch an der Grundidee hielt er oder sie fest. Und selbst Jahrzehnte später, der Gründer ist längst begraben, ist der Kern seiner Vision immer noch da.

Gleich zu gleich

Wie kann das sein? Das liegt daran, daß es kein Zufall ist, wer nach und nach in dieses Unternehmen eingetreten ist. Die versammelten Mitarbeiter des heute feiernden Unternehmens "Dreistern” sind nicht zufällig in diesem Haus. Sie sind andererseits auch nicht wirklich objektiv und systematisch aus einer Fülle von Bewerbern ausgewählt worden. Jeder, der Mitarbeiter einstellt, weiß, wieviel davon abhängt, wer nun "zufällig" zu einem findet. Die Mitarbeiter von Dreistern sind hier, weil sie sich bewußt oder unbewußt von der Aufgabe und den Zielen dieses Unternehmens angezogen fühlen - im übrigen auch von seinen Macken, das sollte man nicht verschweigen. Und so hat eine Gemeinschaft zusammengefunden, die einen gemeinsamen Traum hat. Das Gewicht mag bei den einen schwerer sein und einen stärkeren Sog ausüben als bei den anderen - und nicht jedem ist jede Facette des Traumes gleich wichtig - doch latent ist der Traum und das Gewicht, das er ausübt, bei allen vorhanden. Es kann bei allen - zumindest fast allen - aktiviert werden. Und das ist nicht nur bei Dreistern so, sondern überall.

Ich möchte damit sagen: die Vision in einem Unternehmen hat nie nur einer, obwohl wir in unseren Alltagstheorien immer von dem einen Visionär ausgehen. Am Anfang ist es natürlich nur der Gründer, doch schon der zweite ist nicht zufällig dabei. Die Vision des Unternehmens ist latent in allen vorhanden. Die einen mögen näher dran sein als die anderen, die Führenden können sie hoffentlich am besten und leidenschaftlichsten artikulieren und glauben am meisten an sie, doch jeder könnte sie in sich erspüren. Die Vision ist der unsichtbare Konsenspunkt, der alle verbindet. Über Strategien können und sollten wir uns heftig streiten, die Vision, wenn sie bewußt gemacht wurde, eint uns alle.

Nun hilft das Wissen darüber, daß es in jeder Organisation, in jedem Unternehmen, ja sogar in jedem Land eine gemeinsame Vision gibt, die wenn auch un- oder halbbewußt immer da ist, nicht viel. Die Vision wird nur wirken, wenn sie Kraft hat, wenn sie energiegeladen ist. Vision ist nämlich keine Frage von Haben oder Nicht-haben, von schwarz oder weiß, es handelt sich hier um ein Kontinuum von weniger bis mehr bewußt, von wenig Kraft bis viel Kraft. Und die Führungsspitze eines Unternehmens hat die Aufgabe, auf diesem Kontinuum möglichst weit in Richtung "bewußt" und "kraftvoll" zu gelangen.

Und wodurch bekommt eine Vision - eine Unternehmensvision - mehr Energie?

Erstens: Lebendige innere Bilder

Sie bekommt mehr Energie, wenn sie zu einem lebendigen inneren Bild wird. Ein Unternehmer sagte mir einmal bei einem Seminar, daß er immer in seiner Vision "bade". Dann lehne er sich zurück und stelle sich vor, wie sein Unternehmen einmal sein soll. Das würde bei ihm ein sehr gutes, wohliges Gefühl auslösen. Machen Sie das manchmal, daß Sie sich vorstellen, wie Ihr Untenehmen vor Lebendigkeit sprüht, wie die Kunden begeistert und dankbar sind, die Mitarbeiter eine stolze Gemeinschaft, die Produkte das Objekt allgemeiner Bewunderung? Stellen Sie sich manchmal die Höhepunkte vor, die sie mit Ihrem Unternehmen erleben wollen? Sie sollten das tun. Nehmen Sie sich Zeit, um sich an Ihrer Vision zu erfreuen, um aus ihr Energie zu tanken!

Zweitens Gemeinsam statt einsam

Sie sollten es nicht alleine tun. Das ganze Führungsteam sollte es tun. Das ganze Führungsteam sollte sich Zeit nehmen, um seine inneren Bilder, seine Träume von der Zukunft dieses Unternehmens zu erforschen und sich gegenseitig mitzuteilen. Die Vision sollte gemeinsam entwickelt und mit Energie aufgeladen werden. Denn wenn zwei oder mehr Menschen lebendige innere Bilder von einer gewünschten Zukunft entwickeln, dann hat die Vision gleich ein Vielfaches an Energie.
Ich weiß, wir denken üblicherweise, daß es nur einen Visionär in einem Unternehmen gibt. Warum sollte dann eine Gruppe die Vision entwickeln. Doch ich führte ja schon aus: Es ist kein Zufall, wer in einem Unternehmen, inbesondere in seiner Leitung, beisammen ist - und diese Leute haben den gleichen Traum. Der vorsichtige Finanzmann, der pragmatische Werkleiter, der umtriebige Verkaufschef - sie tragen, wenn sie sich sorgfältig genug erforschen, die genau gleiche Vision in sich und können sich für sie begeistern - und auf der Ebene Strategie dann gleich wieder streiten. Daher ist es ganz wichtig, gemeinsam etwas Zeit zu investieren und die Vision zusammen zu entwickeln, lebendig zu machen und mit Energie aufzuladen.

Drittens:Gemeinsam aufschreiben

(Immer noch zu der Frage, wodurch bekommt eine Vision mehr Energie?) Sie sollten die Vision aufschreiben. Auf einem einzigen Blatt Papier. Sie sollten dies im Leitungsteam gemeinsam tun. Sie sollten sie in Gegenwartsform aufschreiben - so, als ob sie schon wahr ist. Nicht: "Unser Ziel ist xy" oder "Im Mitelpunkt unseres Handelns steht abc", sondern "Das und das ist dann so und so". "Begeisterte Kunden empfehlen uns weiter" könnte so eine Aussage in einer Vision sein. Ich will an dieser Stelle nun nicht zu sehr ins Einzelne gehen, um darzulegen, was eine schriftliche Vision beinhalten sollte. Doch der Akt des Aufschreibens, des Sich-Einigens auf gemeinsame Worte ist sehr wichtig. Die Vision bekommt dadurch mehr Kraft.

Viertens: ein Symbol

Sie sollten ein Symbol für Ihre Vision finden und dieses Symbol an vielen Stellen im Unternehmen sichtbar machen. Ein Werkleiter der Deutschen Post, der ein großes Sortierzentrum mit 2500 Mitarbeitern am Frankfurter Flughafen leitet, stellt seine Vision immer am Beispiel eines Kastanienbaums dar. Das Werk soll stark sein und blühen wie dieser Baum, es soll glänzende Früchte tragen, die weithin begehrt sind, es soll wie der Baum ein Orientierungspunkt in der Landschaft sein, ein Vorbild für viele andere Brief- und Paketzentren. In dem Baum leben viele Tiere, die sich dort wohlfühlen, das sind die Mitarbeiter. Die Abteilungen wirken zusammen, so wie die Äste dieses Baumes mit dem einen Stamm verbunden sind. Das Sonnenlicht scheint durch die Zweige des Baums - und das ist die Stimmung, die er sich für sein Werk wünscht. In dem Sortierzentrum dieses Werkleiters neben dem Frankfurter Flughafen findet man überall Plakate von diesem Kastanienbaum.

Das Symbol kann auch stärkeren Bezug zum Geschäft haben. In der Schweiz gibt es die Migros als größten Lebensmittelhändler. Gottlieb Duttweiler, der sie gegründet hat, wollte ein Brücke zwischen dem Endkunden und dem Produzenten schlagen, weil er in den zwanziger Jahren das Handelssystem als viel zu ineffizient empfand. Eine stilisierte Brücke war lange auf den Produkten der Migros zu finden und die Firmenzeitschrift heißt heute noch "Der Brückenbauer".

Ein solches Symbol dient als Erinnerungsanker für die Vision. Wenn man es betrachtet, wird man immer wieder an die Vision erinnert. Daher sollte es im Unternehmen an vielen Stellen sichtbar sein. Am wirksamsten sind ganz einfache Symbole: Baum, Brücke, Quelle, Haus, Schiff und so weiter. Ein "Motor" beispielsweise würde als Symbol kaum jemanden begeistern.

Also, ich will noch einmal zusammenfassen. Was sollten Sie tun, um die Vision bewußt zu machen und mit Energie aufzuladen?
1. Lebendige innere Bilder erzeugen
2. Dies gemeinsam im Führungsteam tun
3. Die Vision gemeinsam aufschreiben - und dabei ruhig um jedes Wort ringen
4. Ein Symbol finden und sichtbar machen

Was man nicht braucht, ist ein Plan, wie Sie die Vision verwirklichen werden. Das mag jetzt verwundern. Denn sagen wir nicht immer, daß Ziele nichts wert sind, wenn wir nicht auch die Maßnahmen kennen, die uns dahin führen? Doch bei einer Vision ist das anders. Wir können gar nicht den ganzen Weg zu ihr kennen. Wir entwickeln sie und halten Sie im Bewußtsein. Wir machen selbstverständlcih ganz konkrete Pläne für einen uns überschaubaren Zeitraum. Wir haben selbstverständlich Strategien für die nächsten drei Jahre. Doch was die Vision betrifft, warten wir vor allem ab und schauen, was an Gelegenheiten unseren Weg kreuzt. Wenn unsere Vision mit Energie geladen ist, werden wir interessante und unerwartete neue Gelegenheiten für unser Unternehmen förmlich anziehen - Möglichkeiten, die wir uns bislang nicht einmal im Traum ausmalen konnten. Dann kann eines Tages ein neuer Mitarbeiter vor der Tür stehen, und dieser hat eine Idee, die unserer Firma ein wichtige neue Wendung gibt. Wenn unsere Vision Kraft hat, dann sind wir viel sensibler für die Wahrnehmung solcher Gelegenheiten.

Das alles hilft nichts, wenn...

Nun komme ich zur Schattenseite des Ganzen - zum wunden Punkt des Unternehmens. Die schönste und kraftvollste Vision hilft nichts (oder nicht viel), wenn ich als Unternehmen nicht meinen wunden Punkt kenne und heile. Und jedes, absolut jedes Unternehmen hat einen solchen wunden Punkt. Dieser wunde Punkt hat eine äußere und eine innere Seite. Die äußere Seite sind Probleme, die chronisch geworden sind. Oder Katastrophen, Schwierigkeiten, Ärgernisse, die regelmäßig wiederkehren. Oder auf der Straße liegende Chancen, die nicht wahrgenommen werden. Solche harzigen Probleme, solche offenen und nicht heilen wollenden Wunden, deuten darauf hin, daß wir die uns die innere Seite des wunden Punktes anschauen und etwas lernen müssen. Dazu ein Beispiel: In einem Unternehmen gibt es an Schlüsselpositionen zuviele Leute, die eigentlich die Kompetenz für ihren Job nicht haben, die aber dennoch aus diesem nicht entfernt werden. Das ist die äußere Seite. Die innere Seite: Die Mitglieder des Geschäftsleitungsteams wollen niemanden verletzen - vielleicht, weil sie selbst Angst haben, verletzt zu werden. Das heißt, die Geschäftsleitung muß etwas lernen. Mehr als lernen - sie muß ihr Denken und Fühlen verändern. Es ist eine innere Entwicklung, die es hier braucht. Einen Vorgang der Heilung.

Und zu dieser inneren Entwicklung sollte jeder bereit sein, der die Kraft von Visionen wirklich nutzen will. Er mag sonst dennoch weit kommen, das Untenehmen mag auch stark wachsen, doch die Vision wird nicht in all ihrer Fülle wahr. Das Wachstum des Unternehmens wird von mehr Streß statt von mehr Freude begleitet sein. Und möglicherweise ist der wunde Punkt auch so stark, daß gar kein Wachstum stattfindet. Es reicht also nicht, auf das Dach zu steigen und die Sterne anzuschauen, es ist auch notwendig, die Leichen aus dem Keller zu holen, bzw. die Invaliden im Keller zu heilen.

Das Finden, Bewußtmachen und Aufladen einer Vision ist also, wenn man es ernst nimmt, immer auch ein Akt der Heilung, des Heil-Werdens.

Nimmt man das ernst, dann kann man sich einer Sache ganz sicher sein: Die Vision wird in jedem Fall realisiert werden. Die authentische Vision ist immer realisierbar. Sie ist die Bestimmung der Gemeinschaft der Menschen, die in dem Unternehmen arbeiten.

Sie mögen sich noch fragen, wie sich denn alle Mitarbeiter für eine Vision begeistern lassen. Und darauf gibt es eine einfache Antwort. Es geht nämlich sehr leicht, doch es hat seinen Preis. Es erfordert nämlich, daß Sie einen großen Teil Ihrer Mitarbeiter einmal für volle zwei bis drei Tage in einem Raum zusammenbringen. Zu erklären,was dabei passiert, würde jetzt noch mal einige Seiten brauchen. Dazu fehlt der Platz. Doch es geht darum, in den zwei oder drei Tagen ein Erlebnis zu schaffen, das alle begeistert. Alle lernen dabei mehr über Markt und Wettbewerb, untersuchen und karikieren auch ihre eigene Kultur, legen neue Verhaltensnormen fest, entwerfen ein eigenes Zukunftsbild, das mit dem der Führung abgeglichen wird, und planen Maßnahmen. Solche Konferenzen, die man mit 100 oder auch mit 1000 Mitarbeitern durchführen kann, sind für die Beteiligten ein unvergeßliches Erlebnis. Sie sind ein Ereignis, das den Legendenschatz des Unternehmens bereichert. Die Vision wird darin nicht erzählt, sondern erlebt. Die Führung sagt hinterher typischerweise, daß das ganze Unternehmen knistert. Und dann spürt man die Kraft der Vision.