all in one spirit
homeLiteraturLiteratur zu RTSCLiteratur zu Open SpaceLiteratur zu Appreciative InquiryLiteratur zu ZukunftskonferenzenLiteratur zu World CafeLiteratur zu Community BuildingVideosRessourcenGeschichtenVeranstaltungenLinkskontaktImpressum

 

 

 

 

SIMULTANEOUS CHANGE - SCHNELLER WANDEL IN GROSSEN GRUPPEN

 

Matthias zur Bonsen

veröffentlicht in: Organisationsentwicklung 4/1995, S. 30-43

Wenn grossflächiger Wandel schnell gehen soll, wenn die Energien vieler für neue Ziele und Programme zu mobilisieren sind, wenn nicht zuletzt eine Gemeinsamkeit von Visionen, Werten und Zielen bei vielen - vielleicht dem ganzen Unternehmen - entstehen soll, dann kann es sinnvoll sein, das ganze, offene System oder grosse Querschnitte desselben für zwei bis drei Tage in einen Raum zu holen. Ein aufregendes Abenteuer beginnt ...

Wir kennen das Lied: immer mehr Unternehmen und Organisationen müssen sich verändern. Manchmal ist es primär ein strategischer Wandel, manchmal in erster Linie ein kultureller. Doch eines ist fast immer wichtig: Die Veränderung muss schnell gehen. Sie sollte am besten schon gestern stattgefunden haben. Denn das Umfeld bewegt sich weiter, die Wettbewerber warten nicht, die Ressourcen werden knapper, und/oder die Konzernspitze droht mit Verkauf.

Während wir in dieser Lage gezwungen sind, einen Zahn zuzulegen und unsere Unternehmen und Organisationen zu einer Kraft zu machen, die mit aller Energie ein Ziel verfolgt, arbeiten wir immer noch mit den Veränderungsmodellen der Vergangenheit weiter. Es gibt hier sicher verschiedene Ansätze, doch eines haben fast alle gemein: Die Veränderung beginnt an einer Stelle. Diese eine Stelle ist meistens das Top-Management, manchmal eine Projektgruppe (die dann hofft, das Top-Management und die Kollegen zu überzeugen) und manchmal ein von oben bestimmter oder von selbst entstandener «Pilot» in irgendeinem Winkel der Organisation. Von dieser einen Stelle aus wird dann die Veränderung auf den Rest der Mannschaft übertragen. Da es meistens oben beginnt, können wir den Prozess auf neudeutsch top-down-roll-out nennen. Die Veränderung wird in die Organisation «ausgerollt». Hierzu wird eine Kampagne konzipiert, manchmal geschickt, manchmal weniger geschickt, mal nur nüchtern, mal auch emotional, da über die Linie, dort über «ByPässe», manchmal nur Memos, manchmal Versammlungen mit Ansprachen, manchmal Trainingsprogramme, manchmal Workshopserien, um die Betroffenen zu .... wir kennen es. In jedem Fall geschieht der Wandel (wenn er denn geschieht) sequentiell. Er beginnt an einer Stelle und arbeitet sich dann, so ist es gedacht, nach unten oder seitwärts schrittweise vor. Auf dem Wege finden zahllose Meetings statt, werden Widerstände bearbeitet und Wiederholungsschleifen gedreht. Das alles kostet Zeit.

Vor allem aber wird das Feuer, das wir an einer Stelle entzünden, oft gar nicht zu dem Flächenbrand, den wir uns wünschen. Die Dringlichkeit, die in der Führungsspitze empfunden wird, ist zwei Etagen tiefer (keine Wertung!) schon nicht mehr spürbar. Und wenn schliesslich an der Basis der Meister seinen Werkern das Video mit der Ansprache des grossen Vorsitzenden zeigt, dann kann man sich schon glücklich schätzen, wenn er hinterher noch eine halbe Stunde über die Konsequenzen diskutieren lässt, statt gleich zu signalisieren, dass er das Ganze wieder für irgendeinen Unfug von oben hält. Der Veränderungsimpuls, der oben noch Leuchtkraft und Klarheit hatte, kletterte durch die organisatorischen Kamine nach unten und kam dort russgeschwärzt und unkenntlich an.

Dieses russgeschwärzte Wesen wird von denen, die seiner ansichtig werden, vor allem als Störung empfunden, als Unterbrechung der «eigentlichen» Arbeit, als lästiges Übel. Alle warten darauf, dass es von selbst wieder verschwindet. Dort, wo es aber angenommen wird, fühlt man sich nur für die Veränderung im eigenen Bereich verantwortlich. «Ihr sollt die Schornsteine putzen, damit unser Geschäft wieder richtig rauchen kann» sagt die düstere Gestalt. Und dann fegen wir unseren eigenen Kamin, ohne uns um die anderen zu kümmern. Die Kamine haben natürlich Verbindungsrohre auf unterschiedlichen Höhen, und so dringt immer wieder Qualm und Russ von anderen in unseren Bereich ein. Wir ärgern uns, dass die anderen nicht wie wir putzen, vor allem nicht die Verbindungsrohre. Doch wie die anderen fühlen wir uns nicht für das ganze System verantwortlich, ist nie ein unternehmensweites Gemeinschaftsgefühl und ein Gefühl der Dringlichkeit entstanden, sind wir nie zu der einen Kraft geworden.

Als Führungskräfte trösten wir uns damit, dass weitreichender Wandel eben immer lange dauere, vor allem der kulturelle brauche sieben oder gar zehn Jahre. Damit erschaffen und verfestigen wir eine der gängigsten selbsterfüllenden Prophezeiungen überhaupt. Wenn wir glauben, dass die Veränderung lange dauert, dann wird sie lange dauern. Tatsächlich kann sich eine Organisation unter günstigen Bedingungen sogar innerhalb weniger Minuten nachhaltig ändern.

Ein weiterer Makel haftet solchen Methoden der Veränderung an. Wir nutzen nicht wirklich das Wissen und die Intelligenz der Menschen in unserer Organisation, um unsere Visionen, Werte, langfristigen Ziele und kurzfristigen Prioritäten zu entwickeln. Diese werden fast immer nur von einer sehr kleinen Gruppe erarbeitet und dann «verkauft». Hin und wieder kommt es vor, dass hundert oder mehr Mitarbeiter in kleinen Gruppen am Entwurf eines Leitbilds beteiligt sind. Aber das ist immer noch nur ein kleiner Teil von einem grossen Unternehmen. Dass wir grössere Zahlen von Mitarbeitern auch an der Erarbeitung

von Zielen und Programmen mitwirken lassen, kommt noch viel seltener vor. Dabei wäre gerade das in einer turbulenter und komplexer werdenden Welt, in der die Führungsspitze gar nicht mehr alles wissen kann, überaus nötig. Stattdessen erwarten wir, dass zu dem Veränderungsimpuls, den wir in den Kamin hinabschicken, ein Feedback wieder nach oben klettert. Darauf wollen wir dann wieder eine Antwort runterschicken, damit alle glauben, dass man sie gehört habe. Diese Art der Kommunikation erinnert an das Kinderspiel «Stille Post», nicht aber an einen effektiven Dialog. Und vor allem braucht sie Zeit.

Die Zeit scheint reif für eine neue Idee, wie wir Veränderungen angehen. Ein aus meiner Sicht interessanter Ansatz besteht darin, das ganze System in einen Raum zu holen. Während alle in einem Raum sind, wird die Veränderung gemeinsam gleichzeitg geplant und ihre Umsetzung in die Wege geleitet - zugleich in allen Teilen der Organisation. Daher nenne ich diese Idee simultaneous change. Das «ganze System» bedeutet nicht selten, tatsächlich alle Mitarbeiter des Unternehmens in einen Raum zu holen. In den meisten Fällen ist es jedoch nur ein grosser Querschnitt, der das ganze System repräsentiert. Häufig sind auch die Vertreter externer Anspruchsgruppen wie Kunden, Lieferanten und andere dabei. Die Idee, mit fünfzig, hundert oder mehreren hundert Personen einen Workshop durchzuführen, scheint zunächst kaum durchführbar. Doch in den letzten 15 Jahren wurden in verschiedenen Ländern wirkungsvolle Konferenzmodelle entwickelt, die es ermöglichen, mit dem ganzen System -zwei oder drei Tage lang interaktiv in einem Raum zu arbeiten und zu erstaunlichen Ergebnissen zu kommen.

Hierzu zählt beispielsweise die future search conference (Zukunftskonferenz), die in den letzten Jahren vor allem von Marvin Weisbord weiterentwickelt und bekannt gemacht wurde. Dann ist die real time strategic change conference (RTSC-Konferenz) von Kathleen Dannemiller ein bemerkenswerter Ansatz. Marjorie Parker hat in Norwegen mit Visionskonferenzen Aufmerksamkeit erregt. Gleichermassen in den USA Harrison Owen mit Open Space und Dick und Emily Axelrod mit The Conference Model. Die Technology of Participation des Chigagoer I.C.A. Institute of Cultural Affairs, ein weiteres Modell der Arbeit mit grossen Gruppen, hat weltweite Verbreitung gefunden. Bei General Electric ist work out zum Obergriff für eine Reihe unterschiedlicher Konferenztypen geworden. Dort haben inzwischen 200'000 von 300'000 Mitarbeitern an solchen Konferenzen teilgenommen.

Beispielhaft möchte ich zwei Konferenzmodelle beschreiben, mit denen sich eigene Erfahrungen verbinden. Die erste, die future search conference (Zukunftskonferenz), ist schwerpunktmässig dafür geeignet, Visionen und Ziele zu entwickeln, und zwar mit ca. 30 bis 72 Teilnehmern. Die Zielrichtung der zweiten, der real time strategic change conference (RTSC-Konferenz), liegt darin, vorab bereits als Entwurf geplante Visionen, Werte, Ziele und/oder Programme gemeinsam zu überarbeiten und alle Teilnehmer dafür zu gewinnen. Die Tellnehmerzahl hierfür kann bei 50 beginnen und ist nach oben hin offen. Bis heute wurden solche Konferenzen mit bis zu 900 Teilnehmern und in vier parallel laufenden Veranstaltungen sogar mit 2200 Teilnehmern (einem ganzen Werk von Ford in den USA) durchgeführt. Alles sehr interaktiv mit viel Kleingruppenarbeit. Die Teilnehmer sitzen nicht wie im Kino und lassen sich bei Dämmerlicht von einer Folien-Show berieseln, sie arbeiten an Tischen mit je acht Kollegen.

Zukunfts- und RTSC-Konferenzen folgen einer «Formel», der Formel für Veränderung und Mobilisierung. Diese Formel wurde in den 60ern von David Gleicher entwickelt und von Richard Beckhard bekannt gemacht. Sie lautet in meiner Version:

Unzufriedenheit mit der Realität
x Identifikation mit einem Zielzustand
x Erste Schritte
___________________________________
= Energie für Veränderung

Wenn wir die Realität verstehen und erkennen, dass es so nicht weitergehen kann, wenn wir eine stimulierende Vision und/oder Zielsetzung vor Augen haben und wenn wir sehen, dass wir selbst und andere erste Schritte tun, dann beginnen wir an die Vision oder Zielsetzung zu glauben und dann ist die Energie für Veränderung da. Es ist, als ob eine Art Schalter in uns umgestellt wurde. Daher sind die unten beschriebenen Konferenzen so aufgebaut, dass man diesen drei Elementen folgt. Zuerst wird ein gemeinsames Bild der heutigen Realität erzeugt, umfassend, detailreich, die Blickwinkel und das Wissen aller Beteiligten einbeziehend. Es wird herausgearbeitet, was anders werden muss.

(Die grosse Zahl der Teilnehmer hilft, organisationsweit gleichzeitig den gleichen Informationsstand zu schaffen.) Dann wird die Vision entworfen und/oder werden gemeinsame Ziele/Prioritäten entwickelt respektive überarbeitet (wenn sie schon vorab erarbeitet wurden). Dabei wird sichergestellt, dass die Visionen und Ziele nicht nüchterne Texte bleiben, sondern zu lebendigen, stimulierenden Bildern werden. Schliesslich wird die Umsetzung geplant. Der grösste Teil dieser Arbeit geschieht an «max-mix-Tischen». An diesen sitzt jeweils in «maximaler Mischung» ein Querschnitt des Unternehmens. Man könnte diese Tische als Fraktale des ganzen Systems bezeichnen.

Die Zukunftskonferenz von Marvin Weisbord

Die Entstehungsgeschichte der future search conference (ich nenne sie Zukunftskonferenz) reicht zurück in die frühen 60er Jahre zu Fred Emery und Eric Trist, die damals zusammen am Tavistock Institute in London tätig waren. Fred Emery kehrte später heim nach Australien und führte dort mit seiner Frau Merrelyn Emery zahlreiche Zukunftskonferenzen durch. In den USA arbeitete seit den siebziger Jahren Ronald Lippitt am NTL und MIT in eine sehr ähnliche Richtung. Aus diesen und anderen Strömungen in anderen Teilen der Welt schöpfte Marvin Weisbord und entwickelte seine - nach meiner Erfahrung sehr wirkungsvolle - Version der Zukunftskonferenz.

Bis zu 72 Teilnehmer (9 Tische à 8) kommen für zweieinhalb Tage in einem Raum zusammen. Sie stellen einen repräsentativen Querschnitt der ganzen Organisation dar, um die es geht. Neben der Geschäftsleitung finden sich dort Vertreter aller Funktionen und aller Hierarchieebenen ein, Männer wie Frauen, Inländer wie Ausländer, Betriebsräte und oft Kunden, Händler und Lieferanten, das ganze offene System eben.

Die Zukunftskonferenz nach Marvin Weisbord besteht aus fünf Schritten, die alle etwa einen halben Tag lang dauern. Im ersten Schritt beschäftigt man sich mit der Vergangenheit, im zweiten mit der Gegenwart (einmal aussen, einmal innen), im dritten mit der Zukunft (Vision und Ziele), im vierten mit dem Konsens über die Ziele und im letzten mit der Planung von Massnahmen, den ersten Schritten. Sie ist wie ein Trichter, man beginnt sehr breit mit einer umfassenden Analyse der Realität und verengt sich dann zusehends bis hin zu dem, was ab folgendem Montag morgen geschehen soll.

Im ersten Schritt blickt man zurück in die letzten zwei oder drei Jahrzehnte der betreffenden Organisation, aber auch in die Vergangenheit der beteiligten Personen und der Welt, in der wir leben. Erinnerungen werden auf «Zeitlinien», die als grosse Papierstreifen im ganzen Raum an den Wänden hängen, gesammelt und dann in Gruppen interpretiert. Durch den Blick zurück erkennen die Teilnehmer - mit dem Kopf und dem Herz - dass sie schon lange in einem Boot sitzen, dass sie zusammen sonnige Tage des Erfolgs und frostige Nächte des Misserfolgs durchlebt haben und dass sie schon in der Vergangenheit Probleme hatten, Veränderungen bewältigen mussten und all das gemeistert haben. Diese erste Phase der Konferenz dient dem Warm-werden, sie schafft Atmosphäre und erzeugt ein Gefühl von Gemeinschaft. Ich habe leider manchmal unter der Vorgabe von nur wenig verfügbarer Zeit auf diese Phase verzichtet und es meistens bereut.

Der zweite Schritt, die Auseinandersetzung mit der Gegenwart, besteht aus zwei Teilen. Zuerst wird das Umfeld untersucht. Entwicklungen und Ereignisse im Umfeld werden gesammelt, auf einem grossen Mindmap (1,5 in x 4,5 in) an der Wand dargestellt, mit Punkten gemeinsam gewichtet und schliesslich in (homogenen, nicht max-mix-) Gruppen bearbeitet: Was ist unsere heutige Antwort auf diese Entwicklung, dieses Ereignis? Was sollte unsere künftige Antwort auf diese Entwicklung, dieses Ereignis sein?

Im zweiten Teil des zweiten Schrittes schaut man nach innen: Worauf sind wir stolz, was bedauern wir, und zwar in Bezug auf unser eigenes Handeln im Zusammenhang mit dem Thema der Konferenz. Auch hier wird in homogenen Gruppen gearbeitet. Denn in Zukunftskonferenzen sollen unterschiedliche Sichtweisen der «Interessengruppen» zum Ausdruck kommen können und gewürdigt werden. Sie sollen Bestandteil der Realität aller werden. Zugleich werden in dieser Phase aber auch gemeinsame Werte deutlich. Die Teilnehmer erkennen, dass sie ein unsichtbarer Faden verbindet. Und sie beginnen, sich für Missstände gemeinsam verantwortlich zu fühlen.

Im dritten Schritt entwerfen die Gruppen das Bild einer Zukunft, für die sie gerne arbeiten würden, die strategisch in die Landschaft passt, die ihren Werten entspricht und die eine Idealvorstellung ist: das Beste, was diese Organisation oder Firma werden könnte. Die Visionsarbeit geschieht auf schöpferische, phantasievolle und durchaus auch lustige Art und Weise. Darstellungsformen sind Sketche, Collagen, Gedichte, Bilder, Reden und Lieder. Während der Präsentationen steigt die Begeisterung, und die Lust auf Zukunft wird spürbar. Die Inhalte der Präsentationen sind sehr ähnlich, Gemeinsamkeiten werden sichtbar. Dies ist der emotionale Höhepunkt der Konferenz.

Im vierten Schritt arbeiten die Tische die Gemeinsamkeiten der Präsentationen und den Bodensatz verbleibender Differenzen heraus. Das Ergebnis wird im Plenum zusammengetragen und diskutiert und bildet dann die Basis für das, worauf es letztlich ankommt: die Massnahmen.

Diese werden im fünften und letzten Schritt geplant, und zwar meist in homogenen Gruppen. Abteilungstische wie auch externe Gruppen erarbeiten, was sie kurz- und langfristig tun wollen, um die gemeinsamen Ziele zu erreichen. Am Ende verpflichtet sich jede Gruppe öffentlich zu ihrem Programm.

Das Modell von Marvin Weisbord ist besonders geeignet, um mit einer grossen Gruppe Visionen, Schwerpunktziele und Massnahmen zu erarbeiten. Das ist das greifbare Resultat. Der immaterielle und fast noch wichtigere Nutzen besteht in der gestiegenen Bereitschaft zur Veränderung, in dem ernsthaften Willen zur Umsetzung des Geplanten und in einem grösseren Gemeinschaftsgefühl. Kurz: in einem Energieschub. Da viele Umsetzer von vornherein dabei waren, ist die Chance gross, dass hinterher viel implementiert wird.

Die Zukunftskonferenz nach dem Modell
von Marvin Weisbord

Die Zukunftskonferenz nach dem Modell von Marvin Weisbord.
.



Die RTSC-Konferenz von Kathleen Dannemiller und ihren Partnern

Während der Schwerpunkt der Weisbordschen Zukunftskonferenz auf dem Neu-Erarbeiten von Visionen und Schwerpunktzielen liegt, will Kathleen Dannemiller mit ihrer RTSC-Konferenz, die prinzipiell ähnlichen Gesetzmässigkeiten gehorcht, mit einer sehr grossen Gruppe schon von der Geschäftsleitung vorgegebene Visionen, Ziele, Werte und/oder Programme überprüfen, um dadurch den strategischen und/oder kulturellen Wandel auf sehr breiter Basis (simultan!) in Gang zu setzen. Die Zielrichtungen beider Konferenzmodelle sind in Abbildung 2 graphisch dargestellt. Sie überlappen sich und sind auch nicht einzelnen Kästchen streng zuordenbar, denn beide Konferenzmodelle haben positive Nebenwirkungen, die über den engeren Konferenzzweck hinausgehen. Die RTSC-Konferenz von Kathleen Dannemiller (sie hat sie zuerst bei Ford erprobt) ist auf sehr viel grössere Personenzahlen als die von Marvin Weisbord zugeschnitten. Kathleen Dannemiller hat mit bis zu 2200 Personen zusammengearbeitet und sieht nach oben hin keine Grenze. Ich selbst habe bisher in der Spitze mit 850 Personen in einem Raum gearbeitet.

Kathleen Dannemiller hat zwar ein Standardmodell der RTSC-Konferenz entworfen, sieht dies jedoch nur als Basis für massgeschneiderte Designs an. Es gibt darin Module, die dem Aufrütteln, dem Visionieren, dem Erste-Schritte-Planen oder mehrerem gleichzeitig dienen, und die den Erfordernissen der Organisation entsprechend konzipiert und zusammengestellt werden müssen. Ich stelle im folgenden nicht das Standardmodell dar. Man kann bei Kathleen Dannemillers Kollegen Robert Jacobs sehr viel darüber lesen. Vielmehr beschreibe ich eine Abwandlung, zugeschnitten auf einen konkreten, von mir betreuten Fall.

So lautete das Motto der Konferenz, die im Juni 1995 bei der REUM AG, einem Hersteller von Metall- und Kunststoffteilen (hauptsächlich für die Automobilindustrie), stattgefunden hat. Die Unternehmerin trat mit mehreren Zielen an mich heran:

  • Die Automobilindustrie drängte das Unternehmen, in andere Länder zu expandieren; und das war auch ein wesentliches Element ihrer eigenen Vision. Doch bei den Mitarbeitern spürte sie Zurückhaltung. Diese sollten für ihren Traum gewonnen werden.

  • Die Kultur des Unternehmens sollte sich weiterentwickeln, hin zu Offenheit, Mut, Initiative, Verantwortungsbewusstsein, Herzlichkeit (ihr Wort), Teamarbeit, Neugier auf Neues ....

  • Schliesslich sollten - als «handfestes» Ziel - die Mitarbeiter dafür gewonnen werden, alle Abläufe zu verbessern, zu vereinfachen, zu dokumentieren und sich hinterher auch daran zu halten. Das wurde als wesentliche Voraussetzung für eine Verbesserung der Qualität, für die Zufriedenheit der Kunden sowie der Mitarbeiter gesehen. Und es sollte die Grundlage für eine spätere Zertifizierung bilden. Die REUM AG wollte hier mehr als die gerahmte Urkunde im Foyer. Das Unternehmen sollte sich in Bezug auf seine Abläufe wirklich von innen her erneuern.

 

Abbildung 2

Zielrichtungen von
Zukunftskonferenzen

Zielrichtungen von Zukunftskonferenzen

 

Die Mischung aus Neugier, Erwartung, Skepsis und auch ein wenig Ängstlichkeit war den Gesichtern abzulesen, als die 80 Teilnehmer (von 250 Mitarbeitern) an einem Mittag in der Veranstaltungshalle der benachbarten Gemeinde eintrafen. Sie sollten zweieinhalb Tage hier zusammenarbeiten. Zehn Tische für je acht Personen waren vorbereitet, eine Max-mix-Sitzordnung auch. Die Unternehmerin begrüsste, stellte ihre Ziele und Hoffnungen für die Konferenz dar. Es folgten meine Erklärungen über den Ablauf und die Spielregeln.

Im Normalfall besteht der erste Arbeitsschritt einer solchen Konferenz aus etwas, das den Tischen ein rasches Kennenlernen und Zusammenwachsen ermöglicht. Hier mussten wir anders vorgehen und mit der Sicht der Kunden beginnen. Denn zwei Einkäufer aus Automobilunternehmen hatten nur am frühen Nachmittag Zeit. Wir starteten also mit Vorträgen von drei Kunden. Diese legten dar, worauf es ihnen bei Lieferanten wie der REUM AG ankommt, womit sie zufrieden sind und wo Schwächen bestehen. Die Tische diskutierten anschliessend über das Gehörte und überlegten sich Fragen. Etwa eine dreiviertel Stunde lang wurden diese von den Kunden beantwortet. Für viele war es ein erster und aufschlussreicher Kontakt mit Kunden.

Es folgte die Sicht der Mitarbeiter. Jeder schlug seine Konferenzmappe auf und machte sich Notizen auf einem Arbeitsblatt zu ein paar Fragen, die sich auf eines der zentralen Themen der Konferenz, die internen Abläufe und die interne Zusammenarbeit, bezogen. Dann tauschten sich die Teilnehmer an den Tischen über ihre Antworten aus. Anschliessend sollten sie herausarbeiten, wo sie gleicher und wo sie unterschiedlicher Meinung waren. Sie entdeckten zuerst am Tisch und dann im Plenum das fast Unausweichliche: Über alle Abteilungs- und Hierarchiegrenzen hinweg bestand viel Einigkeit über das, was nicht gut lief. Das war dann schon der zweite Schritt zu einem gemeinsamen Verständnis der Realität und zur Steigerung der Unzufriedenheit mit derselben.

Dazu trug auch die nachfolgende Sicht der Unternehmerin bei. Petra Reum-Mühling sagte in einem kurzen Vortrag unter anderem ganz Offen, was sie in ihrem Unternehmen enttäuschte, frustrierte und ärgerte. Kein Applaus, Schweigen. Ein vorhergesehener Effekt.

Abgerundet wurde diese erste Runde des Aufrüttelns mit der Sicht der Abteilungen. Die Teilnehmer setzten sich für diesen Schritt um an «Abteilungstische». Und als Abteilungen erarbeiteten sie, worauf sie stolz sind und was sie bedauern. Die Ergebnisse wurden am nächsten Morgen im Plenum präsentiert.

Abbildung 3
<<Mit Reum in die Zukunft
.
.1. Tag .2. Tag .3. Tag
1. Die Sicht der Kunden
5. Unsere unausgesprochenen Verhaltensregeln
10. Darstellung der überarbeiteten Vision
2. Die Sicht der Mitarbeite
6. Die Vision der Geschäftsleitung
11. Zusammenarbeit zwischen Abteilungen
3. Die Sicht der Unternehmerin
7. Die Vision der Teilnehmer
12. Verbesserung unserer Abläufe
4. Die Sicht der Abteilungen
8. Tische kommentieren die   Vision der GL
13. Konsequenzen für unsere Arbeit
9. Überarbeitung der Vision


Ein Sketch von Mitarbeitern leitete Unsere unausgesprochenen Verhaltensregeln - eine Reflexion der Normen des Unternehmens - ein. Der Sketch traf kulturelle Schwächen, war ein Lacherfolg und trug dazu bei, heikle Themen b besprechbar zu machen. Dann listeten die Tische die «geheimen Regeln» auf Flipcharts auf, sortierten sie nach hinderlichen und förderlichen, sichteten die Erkenntnisse der anderen Tische (durch Umhergehen) und formulierten schliesslich jeweils vier neue Verhaltensregeln. Mittels «Punkte kleben» und einer Diskussion gelangte das Plenum zu sieben neuen Regeln für das ganze Unternehmen. «Wir fühlen uns verantwortlich für neue Kollegen» lautete eine davon.

Zwei Anmerkungen:

1. jeder kann sich vorstellen, wie schwer es ist, die Mitarbeiter für die Einhaltung solcher Regeln zu gewinnen. Wenn überhaupt, dann kann das aus meiner Sicht nur gelingen, wenn das möglichst ganze System sich aufeinmal neue Regeln gibt. jede kleinere Gruppe kehrt sonst in ein System zurück, für das die alten Regeln Norm sind.

2. Dieser Schritt ist zwar oft der einzige in einer Konferenz, der die Unternehmenskultur direkt adressiert. Doch es ist die Art, wie die ganze Konferenz abläuft, die hinterher auf das Unternehmen «abfärbt». Dieser «Nebeneffekt» könnte zwar immer noch stärker sein. Doch nach jeder Konferenz, die einen grossen Teil der Mitarbeiter erfasst, ist das Unternehmen etwas anders als vorher. Teamarbeit wird mehr anerkannt und praktiziert, Grenzen werden leichter überschritten, Mitarbeiter gehen mehr aus sich heraus etc. Die festgelegten Regeln werden zwar nicht zu 100% gelebt, doch eine Änderung zum besseren tritt ein.

Waren die neuen Regeln schon ein Stück Zukunft, so wurden die Teilnehmer nun ins nächste Jahrtausend versetzt, als die Unternehmerin über ihre Vision sprach, so als ob sie schon wahr wäre. Die Sonnenblume war das Symbol ihres Traums. Ihre bildhafte Sprache und der optimistische, idealistische und warme Tenor ihrer Vision erreichten die Zuhörer und erleichterten den Dialog über die Zukunft. Die Tische hatten zwei Stunden Zeit, ihre Zukunftsvorstellungen zusammenzutragen und in phantasievolle Präsentationen umzusetzen. Die Stimmung stieg, fast allen machte es viel Spass, sich Präsentationen auszudenken. Die Visionen wurden so dargestellt, als ob sie schon wahr seien. Die Zukunft wurde anschaulich und spürbar. Sie inspirierte die Anwesenden.

Wieder viel nüchterner war die letzte Aufgabe des zweiten Tages, nämlich den schriftlichen Visionsentwurf der Geschäftsleitung daraufhin zu überprüfen, ob er mit den Vorstellungen der Mitarbeiter übereinstimmte. Änderungswünsche wurden auf Flipcharts geschrieben und im Plenum mit Punkten bewertet. Die meisten gingen nach Hause, ein Delegierter jedes Tisches sowie die Geschäftsleitung blieben da, um gemeinsam den Visionsentwurf zu überarbeiten. Der Tenor änderte sich nicht, doch viele Einzelheiten. Das Ergebnis lag am nächsten Morgen als Kopie auf allen Tischen. Als die Unternehmerin es präsentierte, wurde deutlich, dass in kurzer Zeit eine Vision entstanden war, die von dem anwesenden grossen Teil der Mitarbeiter getragen wurde.

Anmerkung: Nicht in jeder Konferenz wird eine Vision verabschiedet, doch immer irgendeine Art von Zukunft, seien es Ziele, Werte und/ oder ein Programm.

Für den Schritt Zusammenarbeit zwischen Abteilungen sassen die Teilnehmer wieder in der abteilungsbezogenen Sitzordnung. Sie erarbeiteten Wünsche, die sie an andere Abteilungen hatten, um selbst besser arbeiten zu können. Die Wünsche wurden auf Formulare geschrieben und an die Pinwände neben den Tischen der jeweiligen Abteilungen gehängt. Dann erarbeiteten die Abteilungen, wie sie auf die an sie gerichteten Wünsche reagieren wollten. jede Abteilung einschliesslich der Geschäftsleitung präsentierte. jede erntete Applaus, gelegentlich klang ein «Zischen» mit durch. Das war das vereinbarte Signal dafür, dass eine Abteilung defensiv reagiert hatte. Es war wie immer eine machtvolle Übung dafür, die unsichtbaren Grenzen der Organisation zu überwinden und die «Kästchen» miteinander zu verknüpfen. Makro-Teamentwicklung sozusagen. Es wurde deutlich, dass jeder etwas tun wollte. Das Vertrauen in die gemeinsame Vision stieg.


Zitate der Teilnehmer bei der REUM AG

·· «Alle wussten, wo die Missstände liegen" und wie sie abgestellt werden können.»
«Alle wussten, wo die Missstände liegen" und wie sie abgestellt werden können.»
·· «Ich mache mir nicht die Illusion, dass wir alles, was wir uns vorgenommen haben, umsetzenwerden. Doch wenn wir nur die Hälfte umsetzen, sind wir schon einen grossen Schritt weiter.»
Doch wenn wir nur die Hälfte umsetzen, sind wir schon einen grossen Schritt weiter.»
·· «Ich habe in diesen Tagen viel gelernt.»
in diesen Tagen viel gelernt.»
·· «Wir haben jetzt mehr als vorher den Mut, die als, notwendig erkannten Dinge auch umzusetzen.»
·· Die Unternehmerin: «In diesen Tagen haben wir nicht Trippelschrittchen, sondern einen Quantensprung gemacht.»


Aussagen von Mitarbeitern
  • <<Alle wussten, wo die Missstände liegen, und wie sie abgestellt werden können.>>
  • <<Ich mache mir nicht die Illusion, dass wir alles, was wir uns vorgenommen haben, umsetzen werden. Doch wenn wir nur die Hälfte umsetzen, sind wir schon einen grossen Schritt weiter.>>
  • <<Ich habe an diesen Tagen viel gelernt.>>
  • <<Wir haben jetzt mehr als vorher den Mut, die als notwendig erkannten Dinge auch umzusetzen.>>

Die Unternehmerin:
<<In diesen Tagen haben wir nicht  Trippelschrittchen, sondern einen Quantensprung gemacht.>>

Am späten Vormittag begannen wir, uns für mehrere Stunden dem grossen Thema Verbesserung unserer Abläufe zu widmen. Jeder der zehn (wieder max-mix-)Tische erhielt ein Themenfeld, wie beispielsweise «Erstellung und Durchlauf eines Betriebsauftrages». jeder malte ein Flussdiagramm des heutigen Ablaufs auf eine Pinwand und schrieb auf ein Flipchart daneben die Schwächen dieses Ablaufs. Jeder Tisch entwarf dann einen neuen Ablauf, der bestimmte in der Konferenzmappe festgehaltene Anforderungen erfüllen sollte. Vor allem sollte) jeder neue Ablauf einfach und klar sein. Auf einem Markt der neuen Abläufe erklärten je zwei Vertreter jedes Tisches interessierten Besuchern von anderen Tischen den neuen Ablauf und nahmen Anregungen entgegen. Die Tische setzen sich nochmals zusammen, integrierten die neuen Erkenntnisse und präsentierten im Plenum die Highlights ihrer Arbeit. Sie verabredeten einen Termin, um nach der Konferenz weiter an ihrem Thema zu arbeiten und das Ergebnis zu dokumentieren. Es muss wohl nicht erwähnt werden, dass fast alle Abläufe deutlich verbessert wurden. Die Arbeit der Umsetzung ist, während ich dies schreibe, unvermindert im Gange.

Für den letzten Schritt der Konferenz fanden wieder die Abteilungen an den Tischen zusammen. Und als solche erarbeiteten sie, was sie als Konsequenz aus den Erkenntnissen der Konferenz an ihrer Arbeitsweise ab «Montag morgen» ändern wollten.

Die Unternehmerin verabschiedete, Teilnehmer äusserten ihre Eindrücke. Und zum Abschluss wiederholten wir eine der Visionspräsentationen. Einer der Tische hatte ein Lied getextet. Die Gruppe trug es vor, alle anderen sangen den Refrain. Das Wochenende konnte beginnen.

Abbildung 4

Simultaneous Change

altes Paradigma neues Paradigma

sequentieller Wandel

simultaner Wandel

Teilsysteme in einem Raum

das ganze, offene System (einschliesslich Externer) in einem Raum

Arbeit an Einzelthemen

Arbeit am ganzen System (Vision, Ziele, Massnahmen, Beziehungen, Werte, Normen)

oft problemorientiert

immer visionsgeleitet

Diagnose der Organisation durch wenige (Projektteams, Berater...)

Diagnose der Organisation durch alle

Diagnose des Umfelds durch wenige (Top-Management, Marketing...)

Diagnose des Umfelds durch alle.

Vision/langfristige Ziele (wenn vorhanden) nur von oben

Vision/langfristige Ziele offen für Beitrag von allen

Wandel in scheinbar kontrollierbaren, kleinen Schritten

Aufgabe von Kontrolle im engen Sinne, um Kontrolle in einem höheren Sinne zu gewinnen

langsamer Wandel

schneller Wandel


Aus meiner Sicht sind Zukunfts- und RTSC-Konferenzen nicht einfach nur ein neues Instrument. Vielmehr stellt simultaneous change aus meiner Sicht ein neues Paradigma des Managements der Veränderung und Mobilisierung dar. Es bedeutet, Organisationen nicht mehr sequentiell, sondern simultan zu verändern. Simultan, weil man gleichzeitig Visionen entwirft, Ziele vereinbart und die Implementierung in Gang setzt. Simultan, weil die Veränderungen in allen Teilen der Organisation gleichzeitig angeschoben werden. Simultan, weil man gleichzeitig an verschiedenen Elementen des Systems arbeitet: Zielen, Massnahmen, Beziehungen, Werten, Normen.

Im alten Paradigma wird die Diagnose nur von wenigen durchgeführt. Das Innenleben des Unternehmens wird von

Projektgruppen oder Beratern erforscht, das Umfeld wird vom Top-Management global und von den Funktionen nur in ihren jeweiligen Disziplinen (Marketing für die Kunden ... ) untersucht. In Zukunfts- und RTSC-Konferenz dagegen diagnostizieren alle alles, was zum Thema der Konferenz gehört. Alle erarbeiten sich gleichzeitig einen gemeinsamen Informationsstand. Das jüngst viel beschworene Empowerment der Mitarbeiter kann aus meiner Sicht nur erreicht werden, wenn wir dafür sorgen, dass alle ein weitgehend gleiches Verständnis der Realität und der Ziele haben.

Im alten Paradigma beginnen wir den Wandel oft mit Problemen (die sich aus der Diagnose ergeben) und arbeiten in Besprechungen oder Workshops eine Liste dieser Probleme ab. Doch Probleme deprimieren. Und die Lösung des einen Problems kann andere woanders hervorrufen. Im simultaneous change-Paradigma gehen wir von einer Zielsetzung und oft auch von einer Vision der Zukunft aus, einer Vision, die stimuliert und Energien weckt.

Im alten Paradigma versuchen wir, die Veränderung in kleinen kontrollierten Schritten zu erreichen. In Wirklichkeit besteht natürlich nur eine scheinbare Kontrolle, denn jeder Veränderungsprozess hat seine eigene Dynamik und gebiert seine eigenen Überraschungen. Im neuen Paradigma geben wir die Kontrolle im engen Sinne bewusst auf. Doch nur um die Kontrolle in einem weiteren und höheren Sinne wieder zu gewinnen. Wenn moderne Begriffe wie ChaosManagement, Selbstorganisation, fraktale Organisation, lernende und metalernende Organisation, visionär-ganzheitlich-evolutionär-transformative Führung etc. auf irgendetwas zutreffen, dann sicher auf eine Konferenz, bei der 100, 300 oder 600 Menschen im gleichen Raum arbeiten und sich selbst neu erfinden. Indem die Pole «Realität» und «Vision» im Bewusstsein der Teilnehmer lebendig gemacht werden, entsteht - sozusagen zwischen diesen Polen - ein Energiefeld, das die Teilnehmer auf unsichtbare Weise lenkt.

Im alten Paradigma braucht Wandel Zeit, eine unserer knappsten Ressourcen. Im neuen Paradigma geht Wandel schnell. Manchmal wird er innerhalb von Minuten spürbar (wenn beispielsweise ein Kunde spricht). Innerhalb eines dreitägigen Zeitfensters wird eine weitreichende Veränderung initiiert. Darin scheint mir eine der grössten Chancen des neuen Paradigmas zu liegen.

Konferenzen für viele Zwecke

Die Konferenzmodelle von Weisbord/Lippitt/Emery auf der einen und Kathleen Dannemiller auf der anderen Seite sind nicht grundverschieden, sondern auf unterschiedliche Zwecke ausgelegt. Manchmal kommen beide Modelle für eine Situation in Frage. Dann lassen sich auch beide Modelle miteinander verbinden. Ich habe in meiner Praxis Module aus beiden miteinander kombiniert. Die hier dargestellten Module sind auch bei weitem nicht vollzählig. Es gibt Varianten zu ihnen und dann gibt es viele weitere, und ständig werden neue erfunden. Module, die dem Aufrütteln dienen, können beispielsweise auch darin bestehen, dass man die Ergebnisse von Mitarbeiterbefragungen präsentieren und dann diskutieren lässt oder dass jeder Tisch sich in die Rolle eines Wettbewerbers versetzt und sich überlegt, wie er dem eigenen Unternehmen Geschäft wegnehmen könnte. Schliesslich ist es denkbar, die hier dargestellten Konferenzmodelle mit anderen zu verbinden. Beispielsweise kann, nachdem durch eine Zukunftsoder RTSC-Konferenz Einigkeit über gemeinsame Ziele hergestellt wurde, ein Open Space gemäss Harrison Owen eröffnet werden. Das ist ein fast völlig unstrukturierter Zeitraum und Raum, in dem alle Aktivitäten durch spontane Initiative und Führung, Freiwilligengruppen und freien Informationsfluss entstehen: Selbstorganisation in Reinstkultur.

Zukunfts- und RTSC-Konferenzen können auf viele Zwecke zugeschnitten sein. Ich habe beispielsweise Konferenzen durchgeführt, die in die rechte obere Ecke der Abbildung 3 passten, in denen es also darum ging, Vision, Werte, Normen -eine neue Kultur - zu entwickeln. Zukunftskonferenzen können der Kick-off für eine detailliertere

strategische Planung sein, bei der die Detailarbeit dann in einem oder mehreren kleinen Teams fortgesetzt wird, die ihre Ergebnisse wiederum in einer Folgekonferenz ihren Kollegen zur Diskussion stellen. Weiterhin können Zukunftskonferenzen dazu dienen, ein kaufendes und ein gekauftes Unternehmen zusammenzubringen, das Re-Engineering von Abläufen zu planen und zu implementieren, eine Krisensituation zu bewältigen, Gruppenarbeit einzuführen, TQM einzuführen oder zu revitalisieren, eine neue Art der Zusammenarbeit zwischen einem Unternehmen und seinen Lieferanten zu schaffen etc. etc.

Zukunfts- und RTSC-Konferenzen sind meist Teil eines grösseren Veränderungsprozesses. Auf eine Pilotkonferenz mit einem kopflastigen Querschnitt der Mitarbeiter (also primär Führungskräfte) können (und sollten oft) weitere Konferenzen mit einem basislastigen Querschnitt folgen, bis man alle 1000 oder 10.000 Mitarbeiter erfasst hat. Diese haben meist ein verändertes Design und sind etwas kürzer als die erste. Und ein Teil der Teilnehmer aus der Pilotkonferenz ist bei jeder Folgekonferenz dabei. Dann muss an solche Konferenzen natürlich ein Followup anschliessen. Es wird von allen Teilnehmern erwartet. Die Art des Follow-ups wird je nach Organisation und Thema höchst unterschiedlich sein. Manchmal sind es Folgekonferenzen einige Monate später mit der gleichen Besetzung. Oft findet das Follow-up auch in kleineren Veranstaltungen in den einzelnen Ressorts statt. Manchmal ändert sich das Umfeld binnen eines Jahres wesentlich, und der gemeinsam erarbeitete Informationsstand ist plötzlich veraltet. Dann kann eine eintägige Konferenz zur Erneuerung der gemeinsamen Weltsicht angezeigt sein.

Stolpersteine

Die Stolpersteine bei der Durchführung von Zukunftsund RTSC-Konferenzen sind zahlreich. Organisatorische Details wie eine unvollkommene Mikrophonanlage zählen ebenso dazu wie das mangelhafte Briefing für einen Redner. Mit Sicherheit habe ich bisher erst einen Bruchteil der möglichen Stolpersteine erlebt.

Vergewissern Sie sich, dass die Führungsspitze die Veränderung wirklich will. Man sollte meinen, dass sie nur dann zu einer Investition, wie sie eine Zukunftskonferenz darstellt, bereit ist, doch das ist nicht immer der Fall.

Es reicht auch nicht aus, dass nur der eine oberste Leiter die Veränderung anstrebt. Sein Team muss sie, zumindest mehrheitlich, wollen. Die Teilnehmer kennen natürlich ihre Pappenheimer und werden äusserst skeptisch sein, wenn auch bisher Ziele und Strategien proklamiert, jedoch nie von der Führung konsequent nachgehalten wurden.

Die beste Vorsorge gegen Fehler besteht darin, die Zukunftskonferenz mit einem Planungsteam vorzubereiten, das neben den zwei Moderatoren/Beratern (bei sehr grossen Konferenzen auch mehr) einige der vorgesehenen Teilnehmer enthält. Bei einer Zukunftskonferenz mit 70 Personen sollten es vier bis sechs sein, bei einer mit 200 zehn, darüber noch mehr. Das Planungsteam ist so zusammengesetzt, dass es einen Querschnitt der Teilnehmer der späteren Konferenz dar stellt. Die erste Aufgabe des Planungsteams besteht darin, sich genau über den Zweck der Konferenz, die gewünschten immateriellen und materiellen Ergebnisse, klarzuwerden und diese präzise schriftlich zu formulieren. Dann wird mit dem Planungsteam jeder einzelne Schritt durchdacht und daraufhin überprüft, ob er zielführend ist. Da das Planungsteam eine Miniaturversion der Konferenz darstellt, kann es die Wirkung der einzelnen Module gut beurteilen.

Aus meiner Sicht ist ein gut besetztes Planungsteam die beste Garantie dafür, dass am Ende das herauskommt, was man sich vorher erhoffte. Dort, wo ich mit den Ergebnissen einer Zukunftskonferenz nicht zufrieden war, habe ich mich entweder auf unzureichende Rahmenbedingungen (verfügbare Zeit, verfügbarer Raum, verfügbares Geld) eingelassen oder (manchmal auch aus Zeitgründen) ohne ein solches Planungsteam gearbeitet.

Ausblick

Ich denke, dass wir mit der Entwicklung der Methodik der Zukunftskonferenzen erst am Anfang stehen, zumal im deutschsprachigen Raum. Wir werden neue Module erfinden und neue Konferenztypen für neue Zwecke entwerfen, um den Wandel zu beschleunigen. Wir werden die Grenze der möglichen Teilnehmerzahl weiter hinausschieben und Zukunftskonferenzen simultan an mehreren Standorten und auf mehreren Kontinenten abhalten. Die Kommunikationstechnologie wird es möglich machen.

Zukunfts- und RTSC-Konferenzen sind eine der besten Möglichkeiten, um in einem Unternehmen wirklich ein Gefühl von Gemeinschaft und Dringlichkeit zu erzeugen und eine grosse Kraft entstehen zu lassen. Wenn alle verstehen, warum die Veränderung notwendig ist, dann ist die Veränderung nicht mehr ein Störfaktor, der einen von der «eigentlichen» Arbeit abhält, sondern sie ist gleichzeitig ein wichtiger Teil derselben. Wenn alle gemeinsam das Warum und Wie der Veränderung erarbeiten, dann fühlt sich nicht mehr jeder nur für seinen kleinen Vorgarten verantwortlich, sondern für das Ganze.

Mit Zukunftskonferenzen können wir auch etwas aktivieren, was selten beachtet wird: die Lebensenergie oder den spirit der Mitarbeiter. Wir verbinden sie zum einen mit der Realität und machen sie dafür voll verantwortlich, zum zweiten verbinden wir sie mit ihren Visionen, Hoffnungen, Werten und Zielen und zum dritten mit der grossen Gemeinschaft, in der sie arbeiten. Alles drei zusammen wirkt meiner Erfahrung nach sehr inspirierend und energetisierend, zum Vorteil der Institution oder Unternehmung.