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VOM FLÄCHENBRAND DES WANDELS

 

Isis Herzog

veröffentlicht in managerSeminare (Copyright), Heft 33, 4/98, S. 104 - 114


Großgruppenkonferenzen sind "in". Sie sollen tiefgreifende Veränderungsprozesse einleiten und zum schnellen Wandel verhelfen. Wenn Lösungen gesucht werden, um Personal- und Organisationsentwicklung sinnvoll miteinander zu verzahnen, und das Ganze möglichst effektiv und kostengünstig sein soll, dann ist es Zeit für die Zukunftskonferenz. Das demokratische Verfahren ist ebenso einfach, wie radikal. Das Prinzip: Das ganze offene System Unternehmen wird in einen Raum geholt. Die Zukunftskonferenz stellt managerSeminare in diesem Beitrag vor, RTSC-Konferenzen sowie Open-Space-Veranstaltungen in den folgenden zwei Ausgaben.


"Wenn sich ein Unternehmen verändern will, ist die Zukunftskonferenz eine echte Hilfe für den Vorstand. Man kann mit ihr den Konsens einfangen - sie ist wirklich die optimale Form." Als Projektleiterin Technische Neuentwicklung bei der Grammer AG war Maria Spielvogel Teilnehmerin einer Zukunftskonferenz. Der Anlaß: Der Produktionsbereich Kunststoffverarbeitung bei dem Hersteller von Sitzen für PKW und LKW sollte geschlossen werden. Führungsspitze und Vorstand wagten mit der Zukunftskonferenz einen letzten, mutigen Schritt. Nach der Konferenz stand fest: Kunststoffverarbeitung ist und bleibt ein wichtiges Geschäftsfeld für das Unternehmen. Waren vorher die Produktionsabläufe durch viele externe Zulieferer zerstückelt, denkt man nun in Prozeßketten. Eine konkrete Veränderung: In der Kunststoffverarbeitung wird jetzt Verfahrenstechnik eingesetzt. Diese Entscheidung veranlaßte auch den Metallbereich zur Neuausrichtung seiner Herstellungsabläufe.

Vom Vorstand bis zur Arbeiterin

Zukunftskonferenzen sind eine außergewöhnliche Methode, um Führungskräfte und Mitarbeiter für eine Vision zu gewinnen und einen Energieschub auszulösen. Eingeladen werden ca. 30 bis 70 Personen, die einen repräsentativen Querschnitt des Unternehmens bilden: Vertreter aller Funktionsbereiche, aller Hierarchieebenen vom Vorstand bis zur angelernten Arbeiterin, Betriebsräte, Kunden, Lieferanten und externe Berater oder - bei Gemeinden - Repräsentanten aller typischen Gruppen vom Unternehmer bis zum Arbeitslosen. Das gesamte System in einen Raum zu holen, ist eine der Chancen des Instruments. So kann ein umfassendes Bild entstehen, bringt doch jeder seine Sichtweise mit in diesen Raum.

Die Zukunftskonferenz ist ein demokratisches Instrument: Alle Meinungen und Wahrnehmungen sind gültig. Differenzen und Probleme werden zwar gewürdigt und deren Hintergründe erkundet, sie werden aber nicht bearbeitet. Bei jedem Schritt in den auf drei Tage verteilten 16 Stunden gilt: Gemeinsamkeiten finden statt Konflikte diskutieren. Der Fokus richtet sich dabei ebenso auf die Gemeinsamkeiten der Vergangenheit wie auf die Vision, die man sich gemeinsam wünscht und ins Leben rufen will.

Jürgen Theobald, ehemaliger Werkleiter bei der Grammer AG, hat erlebt, wie die Zukunftskonferenz eine ungeheure Aufbruchstimmung erzeugte: Der ständige Frust verschwand und die Vergangenheit konnte abgeschlossen werden. Alte Rechnungen wurden endgültig und einvernehmlich beglichen. In manchen Anschlußprojekten saßen plötzlich Menschen zusammen, die sich vorher nicht grün waren. Jürgen Theobald: "Seit diesen drei Tagen können sie wieder gemeinsame Ziele erkennen und auch gemeinsam dahinterstehen."

Je acht Menschen an acht Tischen

Per Spielregel von dem Druck befreit, unlösbare Probleme bewältigen zu müssen, können die Teilnehmer Gemeinsamkeiten entdecken, deren Existenz bis dato niemandem bewußt war. Gleich bei der ersten Aufgabe, einem Rückblick in die Vergangenheit, wächst das Gemeinschaftsgefühl, ein produktiver Dialog beginnt, Daten und Informationen werden gesammelt. Bei den Teilnehmern reift schließlich die Erkenntnis: Wir sitzen schon verdammt lange zusammen in einem Boot.

Idealerweise sitzen bei der Zukunftskonferenz jeweils acht Personen an acht Tischen zusammen - mal in homogenen, mal in heterogenen Gruppen. In diesen Gruppen beschäftigen sich die Teilnehmer während der zweiten Aufgabe mit Trends, die sie in ihrem Arbeitsumfeld wahrnehmen können. Gesammelt und zu einem Bild zusammengefaßt, entsteht schließlich eine "Landkarte" der gemeinsam erkannten Faktoren, die auf das System einwirken. Nachdem die Haupttrends identifiziert sind, gilt es festzustellen, was von der (homogenen) Gruppe bereits heute umgesetzt wird und was in Zukunft getan werden sollte. Das Prinzip Selbstverantwortung beginnt zu wirken: Gegebenes wird richtig eingeschätzt, Unabänderliches akzeptiert. Die Teilnehmer stehen für die Situation ein und übernehmen Verantwortung.

Dies findet noch eine Steigerung in der dritten Phase der Zukunftskonferenz. Jede homogene Gruppe trägt im Plenum vor, worauf sie stolz ist und was sie bedauert, was sie bislang gut gemacht und was sie versäumt hat. Die Aufgabe hat - wie alles in der Zukunftskonferenz - eine kognitive und eine emotionale Wirkung. Zum einen zeigen sich die gemeinsamen Werte, zum anderen verleihen die Menschen ihrer Betroffenheit Ausdruck.

Mut und Energie für den Wandel

Und dann folgt, wie nach jeder Aufgabe, eine Phase der Reflexion. Nicht selten öffnet sich gerade hierbei der Raum für unbequeme Wahrheiten oder erschütternde Erkenntnisse. Wie bei der Stiftung Berufliche Bildung in Hamburg, deren Aufgabe es ist, Langzeitarbeitslose für die Wiedereingliederung zu qualifizieren. "Euer Arbeitsmarkt existiert nicht mehr. Der Kunde verändert sich - er wird zahlungsunfähig", sagt einer vom Externen-Tisch der Berater und Betriebe.

Als hätte er eine lodernde Fackel in einen Heuhaufen geworfen, auf den jetzt alle gebannt starren, war es plötzlich still im Raum. Da brodelte etwas in den Menschen, plötzlich waren sie hellwach. "In der Arbeit mit großen Gruppen ist die Chance wahrscheinlicher, daß irgendeiner aufsteht und schwierige Wahrheiten ausspricht", sagt Matthias zur Bonsen, der die Zukunftskonferenz nach Deutschland geholt hat. "Wenn Betroffenheit entsteht, wenn die zu einem Prozeß gehörenden Emotionen zum Ausdruck kommen, entsteht genau die Energie, mit der man das vorhandene Potential zum Wandel besonders gut anzapfen, in Bewegung bringen und entfalten kann. Aus diesem Moment heraus erwächst der Mut und die Energie für echten Wandel", ist zur Bonsen überzeugt.

Eine Zukunftskonferenz ist wie eine Abenteuerreise: nicht immer angenehm, aber voller Herausforderungen. Sie kann ein hilfreiches wie notwendiges Instrument sein. In einer Zeit des Wandels, in der ehemals verläßliche Lebensmodelle verloren gehen, scheinen Instrumente, die an die uns innewohnende visionäre Kraft erinnern, immer wichtiger zu werden.

Die Glut unter der Asche

Matthias zur Bonsen nennt diese Kraft die "Glut unter der Asche" und meint damit "den sehnlichen Wunsch, eine erträumte Zukunft zu erschaffen, Teil eines größeren Ganzen und erfolgreich zu sein". Diese Glut sei unsere Lebensenergie. Zukunftskonferenzen bieten laut zur Bonsen ein hervorragendes Umfeld, in dem jeder Teilnehmer diese ihm innewohnende Vision, den Glauben und die Kraft zu deren Verwirklichung befreien kann.

"In der Zukunftskonferenz wird der Optimierungsprozeß weit vorangebracht, weil man mit Emotionen arbeitet - man spürt das Gefühl des Erfolges, auch wenn dieser noch weit weg ist." Jürgen Theobald spricht von dem vierten Schritt, dem Herzstück der Konferenz: der gemeinsame Entwurf der Zukunft. In dieser Phase darf jeder ein Kennedy sein, der den Mond schon erobert sieht, noch ehe der Mensch die Erde überhaupt verlassen hat. Die Teilnehmer sollen eine kreative, spielerische Inszenierung ihrer Vision vorbereiten und so tun, als sei alles bereits Wirklichkeit. "Wagen Sie zu träumen", heißt es. "Nicht völlig utopisch, doch ohne gleich wieder an Hindernisse zu denken. Nehmen Sie alles auf, was wert ist, erreicht zu werden." Hier soll der gesamte Mensch mobilisiert werden - mit seiner Phantasie und Intuition, seinen Werten und Gefühlen.

Lust auf Zukunft

Collagen und Sketche, TV-Dokumentationen, Briefe, Gedichte und Modelle sind das sichtbare Ergebnis. Begeisterung, Freude, Entspannung breitet sich aus - die Zukunft wird lebendig und ihre visionäre Anziehungskraft für alle spürbar. Als wäre die entstandene Energie ein Kraftstoff, wird sie genutzt für den letzten Teil der Zukunftskonferenz. Dieser beginnt damit, die Gemeinsamkeiten der einzelnen Visionen herauszufinden, und endet mit der Planung der Maßnahmen.

Die Zukunftskonferenz gleicht einem Trichter: Gestartet wird mit breitgefächerten Wahrnehmungen und Erkenntnissen, am Ende muß man durch die engste Stelle: Gemeinsame Ziele sind festzulegen. Dieser Prozeß ist mühsam, aber lohnend. Mühsam aufgrund der Maßgabe, daß nur die Ziele an der Pinnwand kleben bleiben, die die Zustimmung wirklich aller im Raum finden. Lohnend, weil auf diese Weise gewährleistet wird, daß alle ihre volle Energie für die Umsetzung einbringen.

Wenn sich keine hunderprozentige Einigung erzielen läßt, kommt die "Liste der ungelösten Differenzen" ins Spiel. Auf ihr landen bisweilen die innovativsten Themen, die einen zweiten Anlauf und noch Zeit zum Reifen brauchen - oder in der Entscheidungskompetenz der Führungsmannschaft liegen. In diesem Fall weiß die Geschäftsleitung nun genau, welche Entscheidungen von allen getragen werden und welche nicht.

Den Geist verändern

Dr. Wolf Klinz ist fasziniert von der Zukunftskonferenz. Der Sprecher der Geschäftsleitung von Elsag Bailey, Hartmann & Braun, einem Unternehmen für Meß- und Regeltechnik, äußert sich in einem Vortrag im Rotarier Club zu seinen Erfahrungen: "Allen bisherigen Ansätzen, wie man in Unternehmen mit dem Zwang zur Veränderung umzugehen habe, war die Auffassung gemeinsam, Veränderungen an einer Stelle zu beginnen, und von dort kontinuierlich die ganze Organisation zu erfassen." Doch das Feuer, das so entzündet werde, werde nicht zu dem Flächenbrand, den man sich wünsche: "Die emotionale Begeisterung der Beteiligten und damit die Bereitschaft zu überdurchschnittlichem persönlichen Engagement bleiben aus."

Die Zukunftskonferenz helfe, Organisationen nicht mehr sequentiell, sondern simultan zu verändern. Denn mit den vereinbarten Visionen und Zielen würden zum einen bereits die ersten Schritte zur Durchführung in Gang gesetzt. Zum anderen würden die Veränderungen in allen Teilen der Organisation gleichzeitig angeschoben. Insofern ist die Zukunftskonferenz nach Ansicht von Klinz kein alter Wein in neuen Schläuchen, sondern ein neues Führungsinstrument, das es ermöglicht, einer Organisation einen neuen Energieschub zu geben.

So können Zukunftskonferenzen selbst den Spirit einer Organisation verändern. Beispiel: Seit Jahren wird erzählt, das Fax-Gerät sei eigentlich eine Erfindung von Siemens gewesen, habe aber dort keine große Zukunft prognostiziert bekommen. Später eroberte das Gerät von Japan aus den Globus. Die Geschichte hat zwei Botschaften. Erstens: Wir sind innovativ und haben gute Ideen. Zweitens: Wir sind Schlafmützen.
Beide Botschaften könnten im kollektiven Unterbewußtsein eines Unternehmens sitzen - und beide hätten eine Wirkung. Zukunftskonferenzen sind geeignet, derartigen Geschichten die Macht zu nehmen und an deren Stelle neue zu setzen, die während der Konferenz entstehen und weitererzählt werden. Hieß es beispielsweise bisher "Unser Management, das kannst Du vergessen, die interessieren sich nicht für das, was bei uns passiert", so läßt die Zunkunftskonferenz überkommene Arbeitnehmer-Paradigmen und Glaubenssätze platzen.


E-Mail an den Vorstandsvorsitzenden

So erzählt Walter Gasior, Leiter Zentrales Ideenmanagement der Siemens AG, von einer Zukunftskonferenz, auf der Siemens-Fachleute über Strategien für das konzerneigene Ideenmanagement nachdachten. Eine Maßnahmengruppe sei so motiviert gewesen, daß sie die Grenzen der üblichen Kommunikationswege erweiterte und eine E-Mail an denVorstandsvorsitzenden Heinrich von Pierer geschrieben habe. Dieser wurde gebeten, sich dafür einzusetzen, die Ziele in Sachen Ideenmanagement in die Führungsinstrumente einzubauen. Von Pierer antwortete und sagte seine Unterstützung zu.

"Es ist in dieser Form wahrscheinlich zum ersten Mal vorgekommen, daß sich eine Gruppe von Mitarbeitern direkt an den Vorstandsvorsitzenden gewendet hat", sagt Walter Gasior und ergänzt euphorisch: "Die Zukunftskonferenz hat zu Ergebnissen geführt, die wir mit keinem anderen Instrument erreicht hätten. Es sind viele wertvolle Einzelmaßnahmen entwickelt worden - diese Fülle ist ein einmaliger Gewinn."

Dieser Gewinn ist ein direktes Resultat der konsequenten Maßnahmenplanung in der Schlußphase der Zukunftskonferenz. Hier zeigt sich die eigentliche Stärke des Instruments: Aus dem großen Teilnehmerkreis melden sich Freiwillige, die sich als Bannerträger und Inititatoren für Maßnahmengruppen verstehen. Sie wollen gerade stehen für das Erreichen eines der vorher einstimmig verabschiedeten Ziele. Diese Freiwilligen sammeln sich um ein Flipchart, schreiben "ihre" Ziele und ihren Namen auf und warten, wer von den Teilnehmer dazukommt.

Die Schlußrunde: Loslegen und Umsetzen

Versucht sich sonst in ähnlichen Momenten jeder möglichst unsichtbar zu machen, so ist dies auf einer Zukunftskonferenz anders: die Energie im Raum ist aufgestaut, die Vision präsent, der Tatendrang groß. In kurzer Zeit stehen die Arbeitsgruppen. Dies ist die Zeit für konkrete Arbeit, in der erste kurz- und langfristige Maßnahmen geplant und im Plenum vorgestellt werden. Die Teilnehmer setzen sich zu einer Schlußrunde zusammen: "Jetzt will ich loslegen", heißt es dann oftmals, und die Erfahrung zeigt, daß die Konferenz einen starken Antrieb zur Umsetzung schafft.

"In fünf Wochen treffen wir uns wieder und ich werde die Frage stellen: Welche Unterstützung brauchen Sie? Wir können uns anschauen, wo es stockt, was an Maßnahmen nötig ist, und wie es konkret weitergeht." So die Schlußworte von Rainer Knapp, Geschäftsführer der Gemeinnützigen Werk- und Wohnstätten (GWW), einer Lebens-und Arbeitsgemeinschaft, die behinderte und nichtbehinderte Menschen beschäftigt. Bei ihrer Zukunftskonferenz war ein Tisch nur von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen besetzt.

Die Idee der Zukunftskonferenz scheint inzwischen auch Roman Herzog am Herzen zu liegen. Als er hörte, daß die Stadt Viersen als erste in Deutschland eine Zukunftskonferenz veranstaltet, bat er um eine Präsentation auf seinem "Tag der Innovationen" in Berlin. Bürgermeisterin Marina Hammes ließ ein Video produzieren, daß nun - außer dem Bundespräsidenten - allen interessierten Bürgern der Stadt Viersen gezeigt wird. So hofft man, daß der Funke überspringt, einen "Flächenbrand" verursacht und möglichst viele Viersener für die einzelnen Maßnahmengruppen begeistert.

Vom Ich zum Wir

Zukunftskonferenzen erscheinen manchem wie ein Werkzeug aus der Zukunft. Wenn alle Teilnehmer ein überzeugtes "Ja" für den Wandel in sich tragen, passiert bisweilen Revolutionäres. So geschehen auf der Zukunftskonferenz der GTZ (Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit), der größten deutschen Entwicklungshilfeorganisation. Mit dem einstimmig verabschiedeten Ziel - einer sehr weitgehenden dezentralisierten Personalarbeit, die enorme personelle Veränderungen in Richtung Ausland mit sich bringt - haben die Teilnehmer ihre angestammten Tätigkeitsbereiche abgegeben und sich zum Teil sogar selbst wegrationalisiert.

Wenn in so konsequenter Weise nicht vornehmlich für die persönlichen Belange, sondern für das Ganze gedacht wird, ist ein enormer Schritt vom Ich- zum Wir-Denken getan, der Energie für einen schnellen Transformationsprozeß freisetzt.